Einer jungen Frau entgleitet ihr Leben: Aggressionen, Gedächtnislücken, Wahnzustände. Zunächst die Diagnose: Schizophrenie. Am Universitätsklinikum Freiburg finden die Ärzte den wahren Grund und heilen die Patientin. Anlässlich eines Films, der jetzt beim Streamingdienst Netflix eingestellt wurde und der einen ähnlichen Fall darstellt, weist das Universitätsklinikum Freiburg auf diesen Fall und seine Spezialsprechstunde „Immunologische Enzephalopathie” hin.
Es klingt wie ein Wirklichkeit gewordener Horrorfilm: Eigentlich hatte Saskia R.* ihr Leben im Griff. Die etwa 30-jährige Frau arbeitete erfolgreich im Management eines Unternehmens. Doch innerhalb weniger Wochen entgleitet ihr alles. Ihre Stimmung schwankt plötzlich ungewohnt stark, sie reagiert impulsiv und zunehmend aggressiver. Zwei Monate nach Beginn der Veränderungen erleidet sie den ersten epileptischen Anfall ihres Lebens. Eine Leidensgeschichte beginnt, die mehr als eineinhalb Jahre anhält und die Patientin in verschiedenste neurologische und psychiatrische Kliniken führt. Als am Universitätsklinikum Freiburg der wahre Grund der Veränderung erkannt wird, kann die Frau nach fast zwei Jahren innerhalb weniger Wochen von allen Beschwerden geheilt werden. Ein ähnlicher, ebenfalls realer Fall ist in den USA verfilmt worden und ist seit 22. Juni – gegen Bezahlung – beim Online-Streamingdienst Netflix in deutscher Synchronisierung unter dem Titel „Feuer im Kopf“ abrufbar.
Auch hier wird anfangs ein Leben gezeigt, das von Susannah Cahalan (Chloë Grace Moretz), das kaum besser laufen könnte, als sie plötzlich von Halluzinationen und Erinnerungsverlust geplagt wird. Während die Ärzte erfolglos rätseln, woran Susannah genau leidet, verschlimmert sich ihr geistiger und körperlicher Zustand zunehmend…
„Feuer im Kopf“ basiert auf den wahren Erlebnissen der echten Susannah Cahalan, die diese in ihren Memoiren „Brain On Fire: My Month Of Madness“ festgehalten hat.
Symptome einer Schizophrenie
Auch Saskia R. wurde bereits in mehreren Krankenhäusern und Psychiatrien intensiv untersucht, bevor sie ans Universitätsklinikum Freiburg kam. Der mehrfach gestellte und bestätigte Befund: Schizophrenie. Doch die Therapie mit antipsychotischen Medikamenten wirkt nicht lange. „Die Psychosen kehrten zurück und wurden so stark, dass die junge Frau alleine kaum noch essen, trinken und sich um sich selbst kümmern konnte. Zu diesem Zeitpunkt wurde sie zu uns an die Klinik überwiesen“, sagt Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst, Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg.
Eine fast 100 Jahre alte Idee bringt die Lösung
Die Ärzte am Universitätsklinikum Freiburg prüfen noch einmal alle möglichen Ursachen, unter anderem eine Entzündung des Gehirns. „Die Idee, dass Entzündungen des Gehirns Schizophrenien verursachen können, gibt es schon seit den 1930er Jahren. Aber erst Anfang der 2000er Jahre gab es die ersten Nachweise, dass dem wirklich so ist“, sagt Prof. Tebartz van Elst, der die Freiburger Forschungsgruppe „Immunologische Enzephalopathien“ leitet.
Fehlgesteuertes Immunsystem für Wesensveränderung verantwortlich
In umfangreichen Laboruntersuchungen stellen die Freiburger Forscher bei der Patientin eine Störung der Blut-Hirn-Schranke fest, wodurch Stoffe unkontrolliert ins Gehirn gelangen können. Außerdem finden die Ärzte im Blut spezielle Immun-Antikörper, die im Gehirn eine Andockstelle des Botenstoffs NMDA blockieren. Eine aufwändige bildgebende Stoffwechseluntersuchung des Gehirns bringt schließlich den Nachweis: Teile des Gehirns sind entzündet. „Das war das entscheidende Puzzlestück, um die Patientin zielgerichtet und erfolgreich behandeln zu können“, sagt der Freiburger Psychiater. Die neue Diagnose: NMDA-Rezeptor-Enzephalitis.
Therapie wirkt innerhalb von Wochen
Die Freiburger Ärzte setzen eine hochdosierte Kortisontherapie und weitere Immuntherapien an, um die Entzündung des Gehirns zurückzudrängen. „Wir konnten schon nach wenigen Tagen eine deutliche Besserung sehen“, sagt Prof. Tebartz van Elst. Nach einigen Wochen kann die Therapie reduziert werden und Saskia R. nach Hause entlassen werden. Schließlich kann die Patientin ihr normales Leben wieder aufnehmen. „Es war fantastisch zu sehen, dass die Therapie selbst bei so lange andauernder Krankheit so schnell und überzeugend wirkt“, sagt Prof. Tebartz van Elst.
Entzündliche Prozesse als Ursache schizophrener Formen
Wie häufig schizophrene Symptome auf eine Entzündung des Gehirns zurückzuführen sind, ist schwierig zu beziffern. Die Diagnostik wird bislang nur an wenigen Kliniken routinemäßig durchgeführt und ist sehr komplex. „Es besteht hier ein großer klinischer Forschungsbedarf“, sagt Prof. Tebartz van Elst.
Die Ursache entzündlicher Gehirnerkrankungen, die schizophrene oder andere psychiatrisch auffällige Symptome hervorrufen, lässt sich nicht immer eindeutig klären. In einigen Fällen geht der Wesensveränderung eine Krebserkrankung voraus. Eine Vermutung ist, dass das Immunsystem in der Folge Strukturen angreift, die es im Tumor und im Gehirn gibt. Ist dann die Blut-Hirn-Schranke durchlässig, kann es zu einer Entzündung des Gehirns kommen.
Gesamtkonzept der Schizophrenie in Frage gestellt
Erfahrungen wie diese könnten nicht nur für einzelne Patienten, sondern auch für das Fachgebiet der Psychiatrie sehr weitreichende Folgen haben. So vertritt Prof. Tebartz van Elst in seinem jüngsten Buch „Vom Anfang und Ende der Schizophrenie. Eine neuropsychiatrische Perspektive auf das Schizophreniekonzept“ (2017) die Meinung: „Wir kennen zahlreiche verschiedene Ursachen für Krankheiten, die wir als Schizophrenie bezeichnen. Anders ausgedrückt: Schizophrenie ist ein Sammelbegriff für viele verschiedene Krankheiten. Wenn wir dem Rechnung tragen, könnten wir Patienten erfolgreicher behandeln, wie es im vorliegenden Fall.“
(Quelle: Universitätsklinikum Freiburg)
* Name geändert
Weitere Informationen:
Spezialsprechstunde Immunologische Enzephalopathien