Entzauberung
einer Legende

Prof. Dr. Hans Bürger-Prinz (1897 - 1976), hier 1967 bei einem Vortrag vor TeilnehmerInnen der 46. Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche und soziale Medizin in Kiel. Er war von 1936 bis 1965 – mit einer Unterbrechung 1945 bis 1947 – Leiter der Hamburger Universitätspsychiatrie. Foto: Friedrich Magnussen/Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte

Fast 2000 Patientinnen und Patienten aus der Hamburger Universitätspsychiatrie klassifizierte deren Leiter Prof. Hans Bürger-Prinz ab 1940 als „reine Asylfälle“ und verfügte deren Verlegung. Über 70 Prozent wurden daraufhin Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde. Bürger-Prinz setzte nach dem Krieg seine Karriere nahtlos fort – wie so viele seiner Kollegen, die in die Euthanasie-Verbrechen der Nazis verwickelt waren. Eine Aufarbeitung kam nur schleppend voran, den Nachforschenden wurden selbst in den 1980er Jahren Steine in den Weg gerollt.

Erst in den 1980er Jahren begann die Auseinandersetzung mit der Verstrickung der Psychiatrie in die Euthanasie-Verbrechen der Nationalsozialisten. Die Hamburger Psychiatrie erschien dabei aber über jeden Vorwurf erhaben – dank der Selbstdarstellung von Hans Bürger-Prinz, der in seiner Autobiografie dreist behauptet hatte, dass es dank seiner guten Beziehungen zu NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann keine „Euthanasie“-Transporte aus Hamburg gegeben habe. Natürlich war dies falsch, aber seine Schüler wollten dies glauben, wie etwa Klaus Dörner, der sich 1984 dafür entschuldigte, „ohne den Versuch einer Prüfung“ die Legende weiterverbreitet zu haben.

Zwangssterilisationen und Deportationen in Hamburg

Es gab in Hamburg Zwangssterilisationen und Deportationen in Vernichtungsanstalten, und Prof. Dr. Friedemann Pfäfflin, ehemaliger Leiter der Sektion Forensische Psychotherapie der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Ulm, war Anfang der 80er Jahre maßgeblich daran beteiligt, Licht ins Dunkel zu bringen – und dies buchstäblich, denn er musste in einen Heizungskeller hinabsteigen, um Akten der Erbgesundheitsgerichte zu bergen, die angeblich seit den Bombenangriffen nicht mehr existierten. Dies geschah im Zuge seiner Gutachtertätigkeit bei Verfahren um Schadensersatz für Zwangssterilisierte.  Bei einem Symposium am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2023  schilderte Pfäfflin, sichtlich gerührt und immer wieder mit den Tränen kämpfend, mit welchen Ungeheuerlichkeiten er durch seine Nachforschungen konfrontiert wurde.  Diese führten ihn z.B. von Hamburg in die ehemalige Heilanstalt Zwiefalten, wo er die Patientenakten einsehen konnte. Dokumentiert wurde in ihnen final nur noch das immer geringer werdende Gewicht der Patienten.

Zurück zu den 7000 von Pfäfflin gefundenen Akten: die wurden ins Staatsarchiv verlagert, wie er berichtete, und sofort gesperrt. Angeblich wegen Datenschutz, aber es war wohl eher die Sorge, dass die Namen der Täter bekannt werden könnten, die inzwischen in den Behörden aufgerückt waren. Sogar im Amt für Wiedergutmachung arbeiteten sie, so Pfäfflin. Erst Hamburgs Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi sorgte dafür, dass zwei Jahre nach dem Fund Zugang zu den Akten gewährt wurde.

Viele Patienten wurden aus der UKE-Psychiatrie in Tötungsanstalten verlegt

Hamburg war sehr schnell bei der Umsetzung des Erbkrankengesetzes, berichtete Pfäfflin. 1937 waren 30 UKE-Ärzte an der Sterilisation beteiligt. Viele Patienten wurden aus der UKE-Psychiatrie in andere Anstalten verlegt, in denen sie getötet wurden. In Hamburg ging es oftmals über Langenhorn. Fritz Niemand erzählte Pfäfflin 1983 seine Lebensgeschichte und von seiner damaligen Angst vor einer Verlegung aus der Eppendorfer Psychiatrie nach Langenhorn. „Er wusste, welches Los ihn dort erwartete“, so Pfäfflin, der aus den Patientenakten Entlassungsbücher erstellte, weil die Klinik behauptete, es gebe sie nicht mehr. 1987 tauchten die Originalbücher dann doch wieder auf… 

Inzwischen scheinen die Zeiten der Vertuschung und Verdrängung von Seiten der Psychiatrie der Vergangenheit anzugehören.  Eine Wanderausstellung der DGPPN wurde 2014 im Bundestag eröffnet und seither an 30 Standorten gezeigt. Neben dem zentralen Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde an der Berliner Tiergartenstraße 4  entstanden lokale Erinnerungsorte in den psychiatrischen Anstalten, z.B. in Wehnen, einem Ort des Hungersterbens, in den überfallenen Ländern, aber auch in Museen, siehe die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg. „Stolpersteine“ für namentlich bekannte Opfer der Krankenmorde sind verlegt worden, Mahnmale in den Ursprungsanstalten wurden errichtet. In den Tötungsanstalten Hadamar und Bernburg entstanden Gedenkstätten, wo der Weg in die Gaskammern unmittelbar nachvollzogen werden kann, in der PK Lüneburg wird an die mörderische „Kinderfachabteilung“ erinnert. Michael Freitag

Der Fall Gerda Bode 

Es ist immer wieder notwendig, einzelne Opfer der Nazi-Euthanasie aus der Anonymität herauszuholen, um den Nachgeborenen die Monströsität der Verbrechen auf einer emotionaleren Ebene nahezubringen. Abstrakte Zahlen sind das eine, reale Gesichter und Namen das andere. Leonora Frank, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am UKE, hat aus den gesichteten Aktenbeständen am Universitätsklinikum einen Fallbericht erstellt, indem der  Leidensweg von Gerda Bode aus Hamburg nachgezeichnet wird. 

 Bei Gerda Bode, 1921 geboren,  wird nach Vorstellung durch ihre Mutter 1939 Schizophrenie diagnostiziert, sie hört Stimmen, fühlt sich bedroht, verletzt sich. Gegen die Psychose erhält sie zunächst eine Insulin- und nach ausbleibender Wirkung eine Cardiazol-Schocktherapie. Die durch Cardiazol zum inneren Spannungsabbau künstlich ausgelösten epileptischen Anfälle sind mit Horrorvisionen und Todesangst verbunden. Gerda Bode wird ruhiggestellt, später entlassen.

Im Juni 1940 erfolgt eine Nachuntersuchung in Friedrichsberg – sie hat zwischenzeitlich einen SS-Mann kennengelernt und ein Kind bekommen, weswegen eine Überprüfung wegen einer möglichen Erbkrankheit angezeigt ist. Es gibt keine Einwände. Am 27. Februar 1941 kommt sie aus der Finkenau mit Säugling und Mann ins UKE, es erfolgt eine stationäre Aufnahme. Sie wirke bedrückt, gebe keine Antworten, sei unruhig, heißt es. Das Kind wird ihr weggenommen. Wieder bekommt sie  eine Cardiazol-Schocktherapie, die sie nicht will.

Als sie nach einem Aufenthalt in Langenhorn am 4. Februar 1943 wieder ins UKE kommt, berichtet der  Schwiegervater, sie arbeite schlecht, ihr Chef sei unzufrieden, sie sei ausfallend, gereizt, rücksichtslos: „Den inneren Menschen vermisst man bei ihr ganz und gar“. Ihr Kind ist verstorben, sie erscheint gleichgültig: „Dann gibt es eben ein anderes.“ „Hebephrenie“ wird in der Akte vermerkt. Am 9. März 1943 wird sie erneut nach Langenhorn verlegt, der Ehemann reicht die Scheidung ein. Es ist die vorletzte Station ihres Lebens: Am 7. August 1943 wird Gerda Bode nach Hadamar transportiert und dort ermordet. (frg)

(Marginal angepasste Version der Originalveröffentlichung, die in der EPPENDORFER-Ausgabe 2/2023 erschien)