Die Psyche des Diktators

Stalin (re.) und Lenin im Jahr 1922 in Gorki. Fotografiert von Maria Uljanowa, Lenins Schwester.

Stalin, Hitler, Mussolini, Putin. Alle diese Diktatoren haben traurige Geschichte geschrieben. Viele Menschen macht es fassungslos, wie ein Mächtiger derart rücksichtslos herrschen kann. Wie konnte es dazu kommen? Der Mediziner, Psychiater und Soziologe Fritz B. Simon hat am Beispiel von Stalin analysiert, welche Faktoren zusammenwirken müssen, damit ein Mensch derart mächtig und grausam werden kann. Die Antwort ist komplex. Es gibt kein einfaches Schema und vor allem keinen bestimmten Charakterzug, der zwingend einen Diktator ausmacht. Vielmehr schlüsselt Simon mit viel Fachwissen das Zusammenwirken von Person, Umfeld und Zeit auf.


Stalins Leben beginnt mit verschiedenen Herausforderungen: Mutter und Vater sind getrennt, der Vater ist Alkoholiker. Der schmächtige Sohn ist intelligent, immer auf der Suche danach, wie er sich durchsetzen kann. In der Schule erlebt er, wie er sich mit seinen Leistungen jenseits der Muskelkraft Respekt verschaffen kann, aber auch wie er quasi seine Ausdrucksmöglichkeit verliert, als seine georgische Muttersprache im Rahmen der Russifizierung verboten wird. Die Mutter unterstützt ihn nach Möglichkeit, nach verschiedenen Fehlgeburten ist der junge Stalin ihr ein und alles. Der Vater dagegen stellt eine ständige Bedrohung für Mutter und Sohn dar. Das Kind kann sich noch nicht wehren, lernt deshalb den Hass aufzuschieben. Sich zu rächen wird für Stalin später immer wieder ein wichtiges Handlungsmotiv.
Aber sicher gibt es viele Scheidungskinder, die ähnliches erdulden. Die am Vater verzweifeln und Bildung als Weg in die Freiheit begreifen, ohne dass sie Diktatoren werden. Eine schwierige Kinderstube mag ein Anfang sein, aber sie taugt nie als zwingende Begründung für einen Lebensweg.
Stalins erste große Liebe stirbt frühzeitig, und der Verlust dieser Frau ist ein weiterer Baustein in der Entwicklung des Grausamen. Im Priesterseminar wird Stalin noch dazu in seinen narzisstischen Phantasien bestärkt (nur Gott ist mächtiger). Vor allem aber arbeitet Fritz B. Simon glaubwürdig heraus, dass Stalin ohne den Apparat, die Organisation nicht denkbar wäre. Machtstrukturen, die zu keiner Zeit ganz verschwunden waren, nur zeitweilig mehr im Verborgenen existierten, bereiteten den Boden für Menschen wie Stalin oder Putin. Die späteren Diktatoren wurden an ihre Positionen geschoben, verfielen dort dem lebensfeindlichen Machtrausch.
Diktaturen können dabei immer wieder als Gegenbewegung zu anarchistischem Chaos verstanden werden. Machtmonopole sind gut und sinnvoll, erläutert Simon, um das Zusammenleben von Menschen zu regulieren und Selbstjustiz zu verhindern. Fehlt diese Rechtsstruktur, wird der Ruf nach Regulation laut und nur ein Diktator scheint Abhilfe schaffen zu können.
Dieses Buch ist hochinteressant. Das Zusammenspiel von Psyche und System wird anschaulich. Es hilft, politische Entwicklungen zu verstehen und auch den Anteil von Strukturen und der Gesellschaft zu reflektieren.
Die Analyse von Stalins Biografie lässt sich aber auch mit Gewinn auf die kleinen Diktatoren dieser Welt übertragen, die zum Glück keine so allumfassende Wirkung entfalten, aber nichts-
destotrotz in ihren Bereichen fatale Szenarien heraufbeschwören können. Eines wird deutlich: Ein Mächtiger hat die Macht vor allem, weil sie ihm zugestanden oder gar von ihm gefordert wird. Der Appell an uns alle ist, derartigem Größenwahn nicht den Boden zu bereiten.
Verena Liebers

Fritz B. Simon: „Stalin und der Apparat. Die Organisation der Diktatur und die Psyche des Diktators“ – Wie Diktaturen entstehen, Carl-Auer Verlag 2023, 34,95 Euro, ISBN 78-3-8497-0489-6, 262 Seiten.