BTHG: Knirschen im Reformprozess

Das BTHG drückt den Grundbegriff der Inklusion künftig in den Mittelpunkt. Foto: Pixabay

Die Unterstützung von Menschen mit Behinderung wird vom Kopf auf die Füße gestellt. Das Mammutprojekt Bundesteilhabegesetz will mehr individuelle Freiräume schaffen. Doch Experten zweifeln, ob die nächste Reformstufe 2020 rechtzeitig umsetzbar ist.

Es ist die größte Sozialreform seit Jahrzehnten. Seit Dezember 2016 vollzieht sie sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit: die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Das Gesetz soll Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmtere Lebensführung ermöglichen. Doch ob das überall funktioniert, ist fraglich. Der Zeitdruck bis zum Start der nächsten Reformstufe 2020 steigt.

Das BTHG will die Unterstützung allein an den individuellen Bedürfnissen ausrichten (Personenzentrierung). Dazu können künftig Einzelbausteine aus Hilfs- und Betreuungsangeboten ausgewählt werden. Die Vorwerker Diakonie in Lübeck nutzt dazu ein anschauliches Bild: “Die Grundidee gleicht der einer Reisebuchung: Neben All-inclusive-Pauschalurlaub gibt es auch individuelle Angebote, bei denen Flug, Unterkunft, Essen, Sport- oder Wellnessangebote je nach Bedarf und Verfügbarkeit individuell gebucht werden können.”

Für jede betroffene Person mit Handicap muss ein sogenannter Teilhabeplan erstellt werden. Künftig werden alle verfügbaren Leistungen in zwei Hilfearten unterteilt, und – auch das ist neu – getrennt finanziert. Unterschieden werden die Hilfe zum Lebensunterhalt und die Fachleistungen zum Bewältigen des Lebens – bei freier Wahl der Wohnform. Zu den Fachleistungen gehören therapeutische Angebote wie Ergotherapie oder eine pädagogische Assistenz. Wer welche Unterstützung finanziert bekommt, hängt vom persönlichen Bedarf ab.

Allein Nordrhein-Westfalen muss Details für über 100.000 Menschen regeln

Ein gewaltiges Reformprojekt, wie allein die Zahlen für Nordrhein-Westfalen zeigen: Zu regeln sind die Vertragsdetails für weit über 100.000 Menschen, die Unterstützung beim Wohnen benötigen, und für 70.000 Personen, die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bekommen sollen. Geschätztes Finanzvolumen jährlich: vier Milliarden Euro. 

Was am grünen Tisch noch machbar erscheint, hat erhebliche Tücken in der Praxis. So müssen etwa bei behinderten Menschen in Wohngruppen die reinen Wohnkosten von den anderen Leistungen der Eingliederungshilfe akribisch getrennt werden. Das klingt bürokratisch – und ist es auch. 

Uwe Mletzko Grundbegriff der Inklusion rückt künftig in den Mittelpunkt, Vorsitzender des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe (BeB), sagt, für diesen Paradigmenwechsel müssten „ganz neue Instrumente der Bedarfserhebung und ihr Einsatz im Teilhabe- und Gesamtplanverfahren geschaffen werden”. Dabei handle es sich um jenen Kernbereich der Reform, der die Kooperation von Fachdiensten und Betroffenen exakt regelt, erläutert der Theologische Geschäftsführer der Diakovere gGmbH in Hannover.

Heinz-Josef Kessmann, Diözesancaritasdirektor aus Münster, betont, viel werde davon abhängen, „dass die Bedarfserhebung und die Teilhabeplanung durch die Landschaftsverbände tatsächlich im Interesse der betroffenen Menschen mit Behinderung ablaufen”. Und er verweist darauf, dass im Juni erst drei Bundesländer die für die Reform nötigen rechtlichen Voraussetzungen, die Landesrahmenverträge, geschaffen haben. Für NRW ist die Vertragsunterzeichnung für den 23. Juli vorgesehen.

„Was kann der Mensch, und was braucht er? Das sind die Leitfragen, die ein neues System erforderlich machen. Und am Anfang macht eine Umstellung Arbeit beim Einführen”, erklärt der Sozialdezernent des Kommunalverbandes LWL, Matthias Münning. Er sei aber zuversichtlich, dass das Ziel der Reformen pünktlich ereicht wird. „Es gibt viel Arbeit, und es gibt viele Detailfragen. Von Problemen kann man deshalb aber nicht sprechen.”

Wirtschaftsprüfungsunternehmen sieht „verbreitet Pessimismus”

Eine Studie des Wirtschaftsprüfungsunternehmens Curacon (Münster) kommt zu einem anderen Schluss. Bei den Trägern der Eingliederungshilfe herrsche verbreitet Pessimismus: “Spät verabschiedete Ausführungsgesetze, ausstehende Landesrahmenverträge, hohe Aufwände im Vorbereitungsprozess und Zweifel an der Erreichung der kommunizierten Ziele des BTHG führen zu Verstimmungen unter den Studienteilnehmern.” Im Vergleich zur Befragung 2018 habe “sich die Bewertung des BTHG nochmals verschlechtert”, urteilen die Autoren.

Wolfram Teschner, Geschäftsführer der Caritas Wohn- und Werkstätten Niederrhein (CWWN), beklagt, dass das BTHG zu einem Übermaß an Bürokratie führe. Der eigentlich gute Ansatz, mehr Teilhabe zu ermöglichen, verkehre sich in sein Gegenteil.

„Die Umstellung wird auf jede Fall einen erhöhten Verwaltungsaufwand bedeuten”, ist auch Uwe Mletzko überzeugt. Viele Kollegen hätten die Sorge, dass den Betroffenen “der große Aufwand real keine Verbesserung der Lebenssituation” bringe. Manche Kritiker befürchteten sogar Verschlechterungen.  (epd)

 

BTHG: Darum geht’s:

Das„Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen”, kurz Bundesteilhabegesetz (BTHG), soll Menschen mit Handicap eine möglichst selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen. Die erste Stufe trat 2017 in Kraft, mit dem Jahreswechsel folgt die nächste.

Manche der gesetzlichen Veränderungen stellen einen radikalen Systemwechsel dar: zum Beispiel bei der Finanzierung der Leistungen, für den Zugang zu den verschiedensten Hilfen sowie bei den Verfahren zur Ermittlung des persönlichen Unterstützungsbedarfs. 

Dazu müssen bis zum Ende des Jahres alle Bundesländer sogenannte Rahmenverträge zur Umsetzung des BTHG schließen, um Leistungen und Vergütungen zu regeln. Das haben bislang nur wenige Länder gemacht.

Das Gesetz löst das Recht der Eingliederungshilfe aus dem Sozialhilferecht heraus. Dabei ist der Grundsatz leitend, dass Menschen nicht erst finanziell bedürftig werden müssen, um Gelder aus der Eingliederungshilfe zu erhalten. Zudem sollen Art und Qualität der Hilfen künftig nicht mehr von der individuellen Wohnform abhängen.

Die Reformen sind für die Träger der Eingliederungshilfe mit einer ganzen Reihe von organisatorischen Herausforderungen verbunden. Experten verweisen darauf, dass sich das historisch gewachsene Angebotsspektrum der Unterstützungsleistungen komplett ändern muss. “Gestaltungsideen in Richtung Selbstbestimmung, Personenzentrierung und Teilhabe treffen auf Bestandssorgen, Sorgen um funktionierende Verwaltungsprozesse, Veränderung der Arbeitsbedingungen beim Personal oder mögliche Einsparungen”, heißt es bei der Deutschen Gesellschaft für Management und Controlling in der Sozialwirtschaft.

Der Grundbegriff der Inklusion rückt künftig in den Mittelpunkt. Dabei geht es auch darum, die Teilhabe an Bildung und am Arbeitsleben sowie die Beratung der Menschen mit Handicap zu verbessern. 

Zunächst muss jeder Betroffene entscheiden, wie und wo er leben will. Dann wird ermittelt, aus welchen öffentlichen Hilfesystemen er welche Unterstützung benötigt, um etwa gesundheitliche Einschränkungen zu kompensieren. 

2020 soll die Trennung von Leistungen der Eingliederungshilfe von existenzsichernden Leistungen eingeführt werden. Das Recht der Eingliederungshilfe wird vollständig aus dem SGB XII (Sozialhilfe) herausgelöst. Diese Neuausrichtung erfolgt konsequent personenzentriert, das heißt, sie wird allein am notwendigen individuellen Bedarf ausgerichtet. 

Ziel ist es, zu vermeiden, dass über die Köpfe der Betroffenen hinweg entschieden wird. Künftig sollen Menschen mit Handicap in den gesamten Prozess der Leistungsplanung und -umsetzung eingebunden sein. 

In der letzten Reformstufe, die am 1. Januar 2023 in Kraft tritt, wird schließlich der Zugang zur Eingliederungshilfe neu gestaltet. Dabei wird auch der leistungsberechtigte Personenkreis geändert. (epd)