Viele Behinderte und Alte
auf der Flucht

Kriegsfluechtlinge Serhii Bolchuk (2.v.r.), seine Frau Natalia (re.), seine Mutter Svetlana (2.v.l.) und Andrej (li.) im Christlichen Gaestezentrum Schoenblick in Schwaebisch Gmuend. Foto: epd-bild/Uta Rohrmann

Wie viele Ukraine-Flüchtlinge mit Behinderung bundesweit schon untergebracht sind, ist unklar. Doch klar ist, dass es immer mehr Frauen, Männer und Kinder mit Handicap werden. Die Sozialträger der Behindertenhilfe bieten freiwillig ihre Hilfe an. In einer bundesweiten Datenbank (www.hilfsabfrage.de) sammeln jetzt Organisationen der Behindertenhilfe Wohn-, Assistenz- und Transfer-Angebote für behinderte Flüchtlinge. Gesucht werden daneben auch Plätze in Alten- und Pflegeheimen, weil unter den Kriegsflüchtlingen ein hoher Anteil an pflegebedürftigen Menschen vermutet wird.

„Wir in der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal haben 30 Menschen mit Behinderung aus der Ukraine aufgenommen“, berichtet Sprecher Wolfgang Kern im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Eines von vielen Beispielen, wie die Träger der Behindertenhilfe selbst aktiv werden und auf zum Teil abenteuerlichen Wegen Behinderte nach Deutschland holen. Zentral gesteuert ist dieses Engagement nicht. „Krisen sind dadurch gekennzeichnet, dass nach einer chaotischen Phase Strukturen aufgebaut werden. So ist es auch jetzt“, sagt Kern.

„Nach einer chaotischen Phase werden Strukturen aufgebaut”

Es lasse sich nur schwer schätzen, mit wie vielen Betroffenen und ihren Betreuern man rechnen müsse, falls der Krieg andauere. „Es werden viele, sehr viele sein“, vermutet Kern. Nach seiner Einschätzung kommen zunehmend Menschen mit Hilfebedarf. Und die bräuchten „die Professionalität und die Qualität, die wir behinderten und pflegebedürftigen Menschen entgegenbringen“.

Schwerst mehrfach Behinderte oder Menschen mit geistiger Einschränkung benötigen hoch professionelle Unterstützung. Die könne nur ein spezialisierter Träger bieten. Jörg Markowski vom Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe (BeB) bestätigt, dass viele Einrichtungen sich selbst auf den Weg gemacht und Unterstützung organisiert haben. Doch offen sei, wie viele Betroffene bereits sicher untergebracht seien, sich erholen und zur Ruhe kommen können. Infos darüber würden nicht systematisch gesammelt.

Nach Angaben der Bundesvereinigung Lebenshilfe sind nicht alle Aufnahmeplätze „unbedingt für eine mittelfristige Unterbringung geeignet sind, weil es sich häufig um ehemalige Wohnstätten handelt, bei denen für eine Nutzung noch Arbeiten erforderlich wären“, sagt Geschäftsführerin Jeanne Nicklaus-Faust. Und: „Es wäre hilfreich, wenn nicht verschiedenste Verbände und Initiativen in der Vermittlung und Aufnahme von Flüchtlingen aktiv sind.“ Besser wäre es, koordiniert vorzugehen.

Liste der Angebot für behinderte Geflüchtete wächst täglich

Das zeichnet sich nun ab. In einer bundesweiten Datenbank (www.hilfsabfrage.de) sammeln jetzt Organisationen der Behindertenhilfe Wohn-, Assistenz- und Transfer-Angebote für behinderte Flüchtlinge, um die Verteilung und Aufnahme besser steuern zu können. Die Liste der Einrichtungen, die Menschen mit Behinderung aufnehmen, wächst täglich. Der BeB berichtet, dass darunter unter anderem die Rotenburger Werke in Niedersachsen, Bethel.regional und Eben Ezer in NRW seien.

Das Christliche Jugenddorfwerk (CJD) hat am 24. März 37 schwerst- oder mehrfachbehinderte Kinder, Betreuerinnen und deren eigene Kinder aufgenommen, die zuvor in Polen waren. Sie kommen im Gästehaus des CJD-Berufsbildungswerks in Koblenz unter. „17 von ihnen können nur liegend transportiert werden. Auch ihre gesundheitliche Situation ist teilweise sehr schwierig“, berichtete CJD-Vorstand Petra Densborn. „Wir können ihnen geschützte Räume geben.“ Behinderte Kinder benötigten eine intensive Traumabewältigung.

Auch der Fachverband „Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie“ hat bereits 200 Menschen mit Behinderung und ihre Betreuer aus der Ukraine geholt. Die Neuankömmlinge hätten zuvor in Kiew in altersgemischten, familiären Kleingruppen gelebt, vergleichbar mit den hiesigen SOS-Kinderdörfern. „Diese altvertrauten Strukturen sollen nach Möglichkeit beibehalten bleiben, denn sie geben den jungen Menschen den Halt, den sie zur Bewältigung der aktuellen Situation benötigen“, so Pressesprecher Thomas Schneider. Und der Bedarf sei riesig: „Allein in Lwiw warten noch tausende Kinder und junge Erwachsenen mit geistiger Behinderung auf ihre Evakuierung.“

Expertin: Viele Pflegebedürftige unter den Kriegsflüchtlingen

Diakonie-Expertin Heike Prestin wies derweil auf einen hohen Anteil an pflegebedürftigen Menschen unter den Flüchtlingen hin. „Es kommen ganze Gruppen von Menschen mit Behinderung und viele Senioren an“, sagte die Referatsleiterin für Altenhilfe, Pflege und Hospiz der Diakonie Deutschland dem Evangelischen Pressedienst (epd). Prestin forderte, die Unterbringung der Menschen sicherzustellen. Dazu benötige es auch Plätze in Alten- und Pflegeheimen.

Die diakonischen Landesverbände, Träger und Einrichtungen arbeiteten aktuell daran, ausreichend Heimplätze bereitzustellen. Die Nachfrage nach Heimplätzen sei während der Corona-Pandemie zwar gesunken, es gebe in der Regel aber mehr pflegebedürftige Menschen, die einen Heimplatz suchten, als zur Verfügung stehende Plätze. „Es wird in den Einrichtungen versucht, vieles möglich zu machen“, sagte Prestin. Momentan zögen einige Einrichtungen etwa ukrainische Kriegsflüchtlinge vor, statt den nächsten Kandidaten von der Warteliste anzurufen.

Doch sie stießen auch an Grenzen, fügte die 45-Jährige hinzu. Alten- und Pflegeheime seien gesetzlich an Personalschlüssel gebunden, die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner müsse also in einer zulässigen Relation zur Zahl der beschäftigten Pflegekräfte stehen. Auch dürften Angehörige nicht in den Heimen übernachten, was sich viele Ukrainer für den Übergang wünschten. Die Diakonie sei deshalb aktuell mit den zuständigen Bundesministerien im Gespräch und fordere, die Regeln für einen bestimmten Zeitraum zu lockern.

Die Pflege-Expertin drang außerdem darauf, die ukrainischen Flüchtlinge in die Gesundheits- und Pflegeversicherung aufzunehmen, um auch die Unterbringung der Pflegebedürftigen in den Heimen langfristig sicherzustellen. Die Bundesregierung habe hierzu positive Signale gegeben, fügte Prestin hinzu. Momentan finanziere die Diakonie die Unterbringung der Kriegsflüchtlinge in den Heimen mit Geldern der Diakonie Katastrophenhilfe, der diakonischen Landesverbände und durch Spenden.

Probleme bei der Integration der pflegebedürftigen Ukrainer in den Heimen sieht Prestin nicht. „Wir haben in fast allen Einrichtungen inzwischen einen derartigen Mix an Nationalitäten, dass mangelnde Deutschkenntnisse eher kein Problem sind“, sagte sie. Viele Pflegekräfte in Deutschland stammten aus Osteuropa und sprächen Russisch.

(epd) 

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