Die Psychiatrie ist eine Baustelle, stellte Prof. Dr. Thomas Bock fest. Da sei es passend, dass die 18. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS) auch auf einer Baustelle stattfinde. Veranstaltungsort war in diesem Jahr die Universität Hamburg, wo in Vorbereitung auf das 100-jährige Jubiläum im kommenden Jahr emsig renoviert wird. So mussten die Organisatoren umplanen: Ein großes weißes Zelt wurde mitten auf dem Campus errichtet, in das die Teilnehmer nach den Veranstaltungen strömten zu Gesprächen, zum Essen oder um sich an den Infoständen, u.a. des Psychiatrieverlages, zu informieren. Als neuer Veranstaltungsort kam auch das Audimax ins Spiel, wo einige Symposien über die Bühne gingen. Dabei ging es u.a. um Lernchancen, Reduktion von Zwang und Gewalt und um Sexualität.
Das Hometreatment gewinnt in der Psychiatrie immer mehr an Bedeutung. Bei der Jahrestagung war es deshalb Thema mehrerer Symposien. Eine neue Variante der aufsuchenden Behandlung ist hier die stationsäquivalente Akutbehandlung zuhause (StäB). Prof. Arno Deister aus Itzehoe erläuterte die formalen Voraussetzungen und betonte, wie sehr die aufsuchende Behandlung das fragmentierte Gesundheitssystem positiv verändern könne. „Wir müssen es als Prozess und Chance sehen. Es ist es wert, das wir dafür kämpfen, das wir das beste daraus machen.“
Lernchancen war ein Symposium überschrieben. Diese gebe es beim Rollenwechsel Gastgeber/Gast bei der aufsuchenden Behandlung, wie Arno Deister bekräftigte. Der Therapeut werde zum Gast, es gälten dann andere Spielregeln, er träfe auf ein Netzwerk des Betroffenen, mit dem er auch arbeiten müsse. Lernchancen gibt es auch durch den Einsatz Betroffener. Eine Ärztin mit eigener Bipo-Erfahrung zeigte sich überzeugt, dass sie mehr Verständnis für ihre psychisch kranken Patienten aufbringe als ihre Kollegen, die über keine eigene Krankheitserfahrung verfügten. Demut, Respekt, Verständnis seien für sie wesentlich. Bipolar Erkrankte würde sie aber lieber nicht behandeln, dies wäre ihr zu nahegehend.
Zu wenig Personal auf Akutstationen
Auch Zwang ist ein großes Thema, zuletzt gab es auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit von Fixierungen. Über den Weg zum Gerichtsentscheid wurde ebenso informiert wie über Präventionsmöglichkeiten von Zwang. Stephan Debus von der Medizinischen Hochschule Hannover stellte Studien zu misslingender Kommunikation zwischen Patienten und Pflegekräften vor, die leicht zu einer Fixierung führen können. Neue Kommunikationsformen werden in Hannover erprobt und gefilmt. Ziel ist die Deeskalation einer angespannten Situation. In einem weiteren Beitrag wurde die Einbeziehung von Peers zur Vermeidung von Zwang beworben. Betroffene schilderten, wie erschreckend schnell man mit Zwangsmaßnahmen konfrontiert werden könne. Problem seien zu wenig und nicht qualifizierte Mitarbeiter auf den Akutstationen. Deren Sensibilisierung für die Situation der Patienten sei notwendig.
„Antipsychotika kein Risiko für Fehlbildungen”
Bipolare Störung und Schwangerschaft, geht das überhaupt? Ja, sagte die Oberärztin Valenka Dorsch und gab Behandlungstipps. Das Rezidivrisiko liege zwar in der Postpartalzeit bei 75 bis 80 Prozent, aber die betroffenen Frauen könnten während und nach der Schwangerschaft gut behandelt werden. Werde eine bipolare Frau schwanger, könne man in den meisten Fällen bei der aktuellen Medikation bleiben. Antipsychotika seien kein Risiko für Fehlbildungen, es gebe Mittel, mit der die bipolare Frau in die Schwangerschaft gehen könne. Sehr wichtig sei es, nach der Entbindung sicherzustellen, dass die junge Mutter genug Schlaf bekomme, Schlafmangel sei ein Trigger für eine Wiedererkrankung.
Bipolar alt werden – dieses Thema wurde bisher eher stiefmütterlich behandelt. Bei einem weiteren Symposium wurde dargelegt, dass bei der Medikamentengabe bei über 65-Jährigen Vorsicht geboten ist. Die reduzierte Entgiftung durch Nieren und Leber mache eine regelmäßige Kontrolle notwendig. Dennoch sei das Absetzen der Medikation verheerend. Das Rückfallrisiko sei mit dem Alter signifikant erhöht, besonders hier das Risiko für depressive Episoden. Die Gabe von Lithium sollte auch im Alter – bei regelmäßiger Kontrolle – fortgeführt werden.
Fazit: Die drei Tage der Jahrestagung in Hamburg waren geprägt von Austausch, Workshops und Symposien. Dem trialogischen Erfahrungsaustausch wurde breiter Raum eingeräumt. Es gab aber auch viel wissenschaftlichen Input. Und ein Highlight: die Auftaktveranstaltung mit der britischen Singer-Songwriterin Emily Maguire und einem Festvortrag von Prof. Dr. Reinhard Haller über die Macht der Kränkung.
Michael Freitag
Weitere, ausführlichere Berichte im nächsten gedruckten EPPENDORFER, der Anfang November erscheint.