Film „sprengt” alle
Erwartungen

Helena Zengel spielt „Benni", für die kein Hilfeszenario zu passen scheint. Foto: © Yunus Roy Imer/​Port au Prince Pictures

Dieser Film ist eine Wucht – entsprechend zahlreich sind die Preise und Lobeshymnen für „Systemsprenger“, der auf der Berlinale neben dem Silbernen Bären gleich noch einen Publikumspreis einheimste. Zuletzt wurde der Debütfilm, der jetzt am 19. September in die Kinos kommt, nun auch noch als deutscher Oscar-Kandidat für die Kategorie „Bester nicht englischsprachiger Film“ eingereicht. Dabei spiegelt die fiktive Geschichte um eine Neunjährige, bei der jegliche Hilfsszenarien versagen, eine komplexe Realität wider, die es selten in die breite Öffentlichkeit schafft. Der Film wird auch von der Fachwelt zum Anlass für Diskussionen zum Thema genommen (siehe unten).

Dass der Film so zu überzeugen vermag, liegt auch am großartigen Ensemble – allen voran Helena Zengel, die die Hauptfigur Benni spielt. Sie sprengt einfach alles: Pflegefamilie, Wohngruppe, Sonderschule: Egal, wo Benni hinkommt, die wilde Neunjährige fliegt sofort wieder raus. Sie gilt als aggressiv und unberechenbar. Aufgrund traumatischer Erfahrungen in frühester Kindheit darf niemand ihr Gesicht berühren. Dabei will Benni nur eines: Liebe, Geborgenheit und wieder bei ihrer Mutter wohnen! Doch die hat Angst vor ihrer Tochter… Als es keinen Platz mehr für Benni zu geben scheint und keine Lösung mehr in Sicht ist, versucht der Anti-Gewalttrainer Micha, sie aus der Spirale von Wut und Aggression zu befreien.


Der Film beginnt mit einer Untersuchung des neunjährigen Mädchens Benni in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie ist wegen ihrer gewaltsamen Ausbrüche schon wieder aus einer Wohngruppe geflogen. Die Frau vom Jugendamt bringt sie erst einmal in eine Kriseneinrichtung. Weshalb sie denn so viele Fotoalben habe, wundert sich jemand beim Einzug. „Jedes Mal, wenn ich aus einer Wohngruppe fliege, bekomme ich eines zum Abschied.“ Benni möchte zu ihrer leiblichen Mutter und versucht, das zu erzwingen. Die überforderte Mutter sagt ja, macht dann wieder einen Rückzieher, Benni rastet aus …


Schulbegleiter Micha soll Benni bei der Integration in der Schule helfen, doch der kleinste Anlass genügt, und Benni dreht durch. „Sie schlägt ihren eigenen Kopf oder den anderer Kinder auf unglaublich brutale Weise auf den Boden oder gegen die Wand, sie droht mit dem Messer. Diese gewaltsamen Durchbrüche enden in unsäglichem Geschrei, das filmisch brillant umgesetzt wird“, so Ilse Eichenbrenner in ihrem Bericht auf www.psychiatrie.de. Das System der Kinder-und Jugendhilfe ist ratlos. Immer wieder ist eine erlebnispädagogische Maßnahme in Kenia im Gespräch. Micha schlägt als Alternative vor, mit Benni für drei Wochen in seine einsame Hütte in der Lüneburger Heide zu fahren. Das wird für beide anstrengend, später enorm gefährlich …

Dynamiken „auf absolut reale Weise eingefangen”


Wie realistisch ist der Film wirklich? Dieser habe die Dynamiken auf absolut reale Weise eingefangen, so Dr. Menno Baumann im Presseheft. Er ist Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf und hat die Entstehung des Films über sechs Jahre als Experte begleitet.
Es gibt sie, die „Bennis“, die hilflos durch das Helfersystem zu irren scheinen und dabei, zwischen ihrer Angst und ihren eigenen Machtphantasien gefangen, hilflose Helfer zurücklassen. Verschiedene Studien kämen zu dem Ergebnis, dass ihr Anteil innerhalb der stationären Jugendhilfe in etwa bei fünf Prozent liege, vielleicht sind es auch sieben. Also eigentlich eine kleine Gruppe – „da diese aber hoch dynamisch unterwegs ist, beschäftigt sie das System extrem“, heißt es.


Regisseurin Nora Fingscheidt stieß auf den Begriff „Systemsprenger“ bei den Recherchen zu einem Dokumentarfilm in einer Obdachloseneinrichtung für Frauen, wo er für eine 14-jährige Klientin benutzt wurde. „Keine Institution der Jugendhilfe wollte sie mehr aufnehmen“, so Fingscheidt. Nicht selten begegne die restliche Gesellschaft den „Systemsprengern“ erst später, wenn sie im schlimmsten Fall als junge Erwachsene gewalttätig werden. Dann würden sie schnell als „Täter“ verurteilt. „Allerdings bringt uns die Grenze, die wir zwischen Tätern und Opfern so gerne ziehen, nicht weiter. Jedenfalls nicht, wenn wir den Kindern helfen wollen“, macht die Regisseurin im Presseheft deutlich.


Nora Fingscheidt will Verständnis für diese Kinder erzeugen und hat dafür viel investiert. Die lange Zeit der Recherche und des Schreibens war ein Prozess, der sie immer wieder an ihre persönlichen Grenzen brachte, schreibt sie. In ihrer akribischen Recherchearbeit sammelte sie so viel Material aus eigenen Erlebnissen und Erzählungen von Pädagogen und Pädagoginnen, „dass fast jede einzelne Szene sich irgendwo in Deutschland genau so abgespielt hat“, so Prof. Menno Baumann. Nun bringt die Regisseurin ihren Film dem Publikum persönlich nahe, reist durch die Republik, teils mit Experten im Schlepptau.

Der Paritätische Schleswig-Holstein und die KJHV/KJSH-Stiftung zeigen den Film am 24. September im Rahmen einer Veranstaltung mit Fachdiskussion im Studio Kino Kiel. Nach Begrüßung durch die Produzentin des Films gibt es ein moderiertes Fachgespräch zum Umgang mit „Grenzgängern” mit Vertretern u.a. von Kinder- und Jugendpsychiatrie, Beschwerdestelle sowie einer entsprechenden Arbeitsgruppe der Kreise und kreisfreien Städte in Schleswig-Holstein. Diverse weitere Termine im Rahmen der Kinotour unter http://www.systemsprenger-film.de. Dort sind auch Informationen aufgeführt, wie der Film für Sonderveranstaltungen genutzt werden kann. (hin)