Hikikomori auch
in Deutschland

Das Phänomen des Rückzugs aus dem Leben, etwa zu Computerspielen, findet sich weltweit – auch in Deutschland. Symbolfoto: pixabay

Es war zunächst ein japanisches Phänomen. Mittlerweile findet man Hikikomori, also den Rückzug aus dem Leben, weltweit – auch in Deutschland. Als Hikikomori werden Personen bezeichnet, die sich aus der Familie und der Gesellschaft zurückziehen. Hikikomori bedeutet meist „Rückzug“ oder „sich wegschließen“. Es sind junge Menschen, oft männliche Jugendliche, die sich über einen längeren Zeitraum in ihre Wohnung oder ihr Zimmer zurückziehen und soziale Kontakte aller Art so weit wie möglich meiden. Der Kontakt zur Außenwelt beschränkt sich nur auf das Allernötigste – und das zum Teil monate- oder jahrelang. Inzwischen nimmt die Zahl der jungen Menschen, die die totale soziale Isolation wählen, auch in Deutschland zu. Zahlreiche psychiatrische Einrichtungen nehmen die „jungen Milden“ stationär auf.

Nach den “jungen Wilden” kommen nun die “jungen Milden”

„Nach den ‚jungen Wilden‘, den Systemsprengern, kommen nun die ‚jungen Milden‘“, sagt Prof. Dr. Uwe Gonther, Ärztlicher Direktor und Chefarzt am AMEOS Klinikum Bremen. Die Tendenz sei schon vor der Pandemie steigend gewesen, erläutert er. Mittlerweile hat die Zahl der jungen Menschen, die sich immer mehr zurückziehen, weiter zugenommen. „Es ist ein stilles Dekompensieren der komplexen Leistungsanforderungen der Gesellschaft“, sagt der Bremer Chefarzt. Die jungen Leute seien überfordert, die einfachen Anforderungen von Tagesstruktur und Leistung zu erfüllen. „Kinder brauchen 3D-Erlebnisse. Das haben sie oft nicht mehr.“ Dies betreffe nicht nur Kinder aus bildungsfernen Familien „Oft sind es auch High-End-Performer, die im Berufsalltag nicht klarkommen. Intelligente Personen, die aber auch schon in der Schule Schwierigkeiten hatten, sich den Rahmenbedingungen anzupassen.“ Den Betroffenen ist in ihren Familien nicht vermittelt worden, dass es Strukturen in Beruf und Gesellschaft gibt, die notwendig für einen geregelten Ablauf sind. „Sie sind überfordert, wenn Disziplin gefordert ist.“ Das betreffe alle Gesellschaftsschichten, aber auch alle Kulturen. „Jungen Menschen, die nach Deutschland kommen und sich hier zurechtfinden müssen, fällt es oft schwer, sich dem System anzupassen.“

Exzessiver Medienkonsum ist der Ersatz für das “normale Leben”


Der Ersatz für das „normale Leben“ draußen ist für die „jungen Milden“ exzessiver Medienkonsum. „Es sind Gamer oder Jungen und Mädchen, die ihre Zeit den ganzen Tag am Bildschirm verplempern. Aber auch Drogenkonsum spielt eine Rolle.“ Bei den Mädchen zeige sich dieser Rückzug und die Überforderung zum Teil in aggressivem und gewalttätigem Verhalten. „Wir verzeichnen eine deutliche Zunahme der jungen Menschen unter 30, die zu uns kommen. Derzeit sind etwa ein Drittel unserer Patienten junge Menschen mit depressiven Symptomen, die so nicht im Lehrbuch zu finden sind“, sagt Uwe Gonther.
Die gute Nachricht: „Es gibt Grund zu Optimismus. Eine Behandlung der Hikikomori ist meist erfolgreich“, betont Prof. Gonther. Das bestätigt auch Dr. Eva-Maria Franck, Chefärztin der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Ärztliche Zentrumsleitung Zentrum für Intensiv- und strukturbezogene Therapie in Hildesheim. „Die Behandlung dauert zwar meist mehrere Monate, aber sie bietet den Betroffenen die Möglichkeit, sich im Leben zurechtzufinden.“ In Hildesheim werden oft die sogenannten „Schulvermeider“ behandelt. „Diese Gruppe ist im Fokus der Behörden. Schulen sind verpflichtet, Schulschwänzer zu melden. Wenn die Eltern überfordert sind, schaltet sich das Jugendamt oder die Polizei ein.“ Der soziale Druck ist groß. „Und das ist auch gut so. Auf diese Weise bietet sich für die jungen Menschen die Chance, frühzeitig Hilfe zu bekommen.“ Unterschiede gebe es zwischen Jungen und Mädchen. „Jungen lehnen oft Hilfe ab, Mädchen wollen Hilfe und zeigen dies durch auffälliges Verhalten wie Aggressionen und Gewalt.“

„Den jungen Menschen fehlt der Halt”


Den Grund für die Zunahme des Rückzugs aus dem Leben sieht Franck vor allem in den Veränderungen in der Gesellschaft. „Den jungen Menschen fehlt der Halt. Sie sind nicht mehr wehrhaft, können dem Alltag nicht standhalten, weil sie es im Elternhaus nicht vermittelt bekommen.“ Eltern sorgen sich mehr als früher, nehmen den Kindern zu viel ab und stärken nicht das Selbstwertgefühl der Kinder. Oder das andere Extrem: „Eltern sind selber schon überfordert mit dem Alltag und kümmern sich nicht mehr um ihre Kinder.“ Zum Teil seien Mütter und Väter ihren Kindern auch körperlich unterlegen und ziehen bei Diskussionen oder Rangeleien den Kürzeren. „Dann resignieren die Eltern und sind oft froh, wenn Hilfe von außen durch Schule, Jugendamt oder Polizei kommt.“
In Hildesheim werden die Jugendlichen stationär für drei bis fünf Monate aufgenommen. „Es sind nur ganz wenige Grundlagen vorhanden, die die Jungen und Mädchen erst erweitern müssen. Sie lernen, in der Gruppe zu interagieren und sich einen Tagesablauf aufzubauen.“ Medikamentöse Behandlung sei meist nicht notwendig. „Es sei denn, sie sind schwer depressiv und haben ausgeprägte Phobien.“
Christiane Harthun-Kollbaum