Viele haben es gewusst und die Täter gedeckt: Das Theater Kiel befasst sich im Dokumentar-Stück „LebensWert“ mit der Euthanasie und den dafür Verantwortlichen, die in Schleswig-Holstein nach dem Krieg ungestört lebten und arbeiteten. Auch die Geschichten der Opfer erzählt die Regisseurin Marie Schwesinger.
Dr. Fritz Sawade galt als versierter psychologischer Gutachter. In rund 7000 Fällen soll er von Flensburg aus Gerichte und Versicherungen in Schleswig-Holstein beraten haben. Bis er aufflog: Sawade hieß in Wahrheit Werner Heyde und war als Psychiater und Neurologe an der „Aktion T4“ beteiligt, die die Massentötung von Behinderten vorbereitete – die Abkürzung steht für die Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin, wo die Zentrale saß. Nach Kriegsende floh er aus US-Haft über die „Rattenlinie Nord“ nach Flensburg. Rattenlinien: Das waren die Fluchtwege gesuchter Nazi-Verbrecher. Über Italien bis nach Südamerika, oder eben gen Norden. Heyde arbeitete bis 1959 in Flensburg, dann wurde sein echter Name bekannt. Er wurde verhaftet und tötete sich vor Beginn seines Prozesses in der Zelle.
Gewusst haben viele von Sawades wahrer Existenz, das schildert das Theaterstück, das das Theater selbst in Auftrag gab, in einer Collage aus Briefen, Akten und Spielszenen. Jennifer Böhm, Rudi Hindenburg, Imanuel Humm und Yvonne Ruprecht verkörpern mal Täter, mal Opfer, werfen sich sprachliche Bälle zu: Euthanasie in Schleswig-Holstein? Nie davon gehört, nichts gewusst, nicht beteiligt. „Nichts ist uns Ärzten so heilig wie die Schweigepflicht“, sagt eine der Figuren. „Was mir anvertraut wird, behalte ich für mich.“
In weißen Kitteln stehen die vier auf der Bühne, die nur mit wenigen Requisiten ausgestattet ist, und sprechen sich im Chor von aller Schuld und allem Wissen frei. In einer Szene waschen sich die männlichen Schauspieler die Hände wie vor einer Operation rein, lang und ausführlich, während am Bühnenrand die Schauspielerinnen aus Briefen zitieren, die sich eine Mutter und die Oberin der Kinderklinik am Schleswiger Hesterberg schrieben. Es geht um die „kleine Ellen“ – sie überlebte die NS-Zeit nicht.
In dem gut zweistündigen Stück geht es neben Heyde-Sawade um zwei weitere Ärzte, die von den Massenmorden an Menschen mit Behinderungen, mit geistigen und psychischen Krankheiten wussten oder selbst mittaten. Durch Euthanasie, den „schönen Tod“, wie das griechische Wort übersetzt bedeutet, starben rund 70.000 Menschen, etwa 400.000 Frauen und Männer wurden zwangssterilisiert, heißt es im Programmheft zum Stück.
Von Anfang an beteiligt war Kinderarzt Dr. Werner Catel. Er tötete Ende der 1930er Jahre ein schwer behindertes Kleinkind auf Wunsch der Eltern, der Fall gilt als Ausgangspunkt für die »Kindereuthanasie«, heißt es auf der Homepage zum T4-Denkmal. Als Gutachter des „Reichsausschusses“ entschied Catel über Tötungen, dennoch wurde er nach dem Krieg entnazifiziert und erhielt 1954 den Lehrstuhl für Kinderheilkunde in Kiel. 1960 ging er aufgrund öffentlichen Drucks vorzeitig in Ruhestand, blieb seinen Überzeugungen aber treu. So sprach er sich 1964 in einem Interview mit dem „Spiegel“ dafür aus, „idiotische“ Kinder zu töten, um ihnen und ihren Eltern „Leid“ zu ersparen. Die Ermordung selbst solle der Hausarzt übernehmen, nachdem eine Kommission aus (männlichen) Fachleuten sowie „eine Frau, eine Mutter“ die unheilbare „Vollidiotie“ festgestellt habe.
Kein Mittäter, aber sehr wahrscheinlich ein Mitwisser war der Kieler Hans Gerhard Creutzfeld. Zeitzeugen wie Fritz Niemand – der Rendsburger überlebte die NS-Zeit, wurde aber als erbkrank gebrandmarkt und zwangsterilisiert – bescheinigten dem Professor und Mitentdecker der Creutzfeld-Jakob-Krankheit, dass er Patienten „als Menschen“ behandele. Aber auch Creutzfeld stellte Diagnosen aus, auf deren Grundlage psychisch Kranke in Vernichtungskliniken geschickt werden. Esther Geißlinger
Das Stück läuft noch bis Ende der Spielzeit im Großen Haus des Theaters.