„einfach !ch“: Torsten Poggenpohl beschreibt in seinem Buch, wie er in die Manie rutschte – und wie er mit Hilfe einer Klinik und viel Selbstdisziplin lernte, seine Erkrankung in Schach zu halten
Es ist nicht so, dass er für sein Buch keinen Verlag gefunden hätte. Denn das wollte Torsten Poggenpohl gar nicht. Er wollte die absolute Gestaltungsfreiheit und Selbstbestimmung über sich und sein Werk behalten und gab somit seinen gut 450 Seiten umfassenden Band „einfach !ch“ im Selbstverlag heraus, Untertitel: „schwul.bipolar.positiv“. Das konnte er sich leisten, weil er heute – zehn Jahre sind seit dem Ausbruch seiner Erkrankung vergangen – ein stabiles Leben in Hamburg führt. Beruflich hat er eine Festanstellung als Restaurantleiter bei der DB. Aber es ist schon ein heftiges Päckchen, das er da zu schultern hatte und das er bis heute durch sein Leben trägt, denn weder seine Homosexualität noch die bipolare Grunderkrankung noch die HIV-Diagnose wird er jemals loswerden.
Torsten Poggenpohl wächst in behüteten Verhältnissen auf – in einem kleinen Ort in der Nähe von Osnabrück. Vater Handwerker, Mutter Laborantin. Eigenes Haus für die Familie. Kindheit und Jugend verlaufen unspektakulär – ausgenommen die Zeit seines Coming Outs als Schwuler, „das war sehr sehr schwierig“. Doch es wird sich zeigen – durch alle nun folgenden Krisen hindurch – dass das Band zwischen Eltern und Sohn stark genug ist. Heute sagt er lächelnd: „Ich telefoniere jeden Tag mit meiner Mutter.“
Vom Jurastudenten zum gut verdienenden Verkäufer von Luxusparfums
Als die Krankheit ausbricht, deren genetische Disposition er vermutlich von seiner Großmutter erbte, ist er Anfang dreißig. Er hat ein Jurastudium absolviert, doch die Abschlussnote reicht nicht für die anvisierte Karriere zum Staatsanwalt. Er macht deshalb einen „Quereinstieg in die Wirtschaft“ und avanciert bald zum Gebietsverkaufsleiter für Luxusparfums im süddeutschen Raum. Er lebt in Augsburg in einer tollen Wohnung, ist hocherfolgreich im Job, verdient viel Geld. Als ein Kollege, der den Hamburger Raum bespielt, erkrankt, erklärt er sich bereit, auch dessen Gebiet mit zu übernehmen, denn es zog ihn schon immer nach Hamburg und in den Norden.
Der erste große Fehler: Er überschreitet seine „Stresskante“. Der Erfolg bleibt aus, reumütig kehrt er zurück, neuer Anlauf, er schuftet von 6 Uhr morgens bis in die Nacht, denn „wenn man sich selbst für ein Alphatier hält, welches immer bereit ist zu leisten, dann merkt man nicht, dass sich gerade etwas verschiebt in der Work-Life-Balance“. (Doch wenn er nicht diese fiese Grunderkrankung hätte, wäre er – wie viele andere auch – in ein Burnout gerutscht, hätte ein Jahr Pause gemacht und wäre dann – mit einem ordentlichen Selbstfürsorgebesteck in der Tasche – wieder am Start gewesen). Er aber saust stattdessen in die Manie. Den unglaublichen Arbeitsstress kompensiert er, indem er nach München fährt und dort die Wochenenden durchfeiert. Irgendwann hat er die Idee, in Augsburg einen Nachtclub „für die oberen Zehntausend“ zu eröffnen. Er nimmt mehrere Kredite auf, zur Absicherung muss er eine Lebensversicherung abschließen, für die er einen HIV-Test braucht. Das Ergebnis ist positiv. Vielleicht – so sagt er heute – hat ihm die nun ausbrechende Manie, mit der er seine verständliche Todesangst zudeckt, das Leben gerettet.
Rastlos rennt er durch Städte, Bars und Geschäfte
Aber jetzt nimmt erst mal das Unheil seinen Lauf. Er startet riesige und aufwändige Werbekampagnen für seinen Nachtclub, den er bald eröffnen will. Rastlos rennt er durch Städte, Bars und Geschäfte. In Berlin steigt er mal eben im Adlon ab, alles großartig, aber die hauseigenen Reinigungskosten von 200 Euro für „eine Handvoll Wäsche“ sind ihm zu teuer. Er beschwert sich unflätig und fliegt raus. Weiter geht’s. Sein Auto lässt er an Tankstellen oder in Parkhäusern stehen. „Warum selbst am Steuer sitzen, wenn es doch Taxen und Chauffeure gibt?“ Er versenkt Tausende von Euros in Edelboutiquen und Clubs. Der Champagner fließt in Strömen. Die Rechnung – versteht sich – landet immer bei ihm.
Irgendwann schmeißt ihn ein Taxifahrer aus seinem Wagen. Nun ist er buchstäblich „in der Gosse gelandet“. Per pedes kämpft er sich durchs UKE (denn er weilt gerade in Hamburg), er will seine Schürfwunde verarzten lassen. Aber stattdessen tauchen zwei Sicherheitsbeamte auf und bringen ihn in die Psychiatrie. Er weigert sich, die beruhigenden Tabletten zu nehmen, er sieht sein „Genie“ bedroht, wird handgreiflich. Es folgen Fünf-Punkte-Fixierung, Anhörung, Beschluss, erst mal sitzt er nun fest in der geschlossenen Abteilung des UKE. Er hält sich mit Musik und „Notfallzigaretten“, die er sich stündlich von der Stationszentrale holen kann, über Wasser. Er beruhigt sich, der Beschluss wird aufgehoben, er verweigert jedoch den angeratenen Verbleib in der Klinik und lässt sich „auf eigenen Wunsch und gegen ärztlichen Rat“ entlassen. Die Odyssee geht weiter.
Irgendwann landet er im “Zentrum für seelische Gesundheit” in Stuttgart
Wieder vergehen einige Wochen und irgendwann landet er in Stuttgart im „Zentrum für seelische Gesundheit“, das er für sich umtauft in das „Kurhotel Bad Cannstatt“. Von der Geschlossenen schafft er es bald auf eine Normalstation. An seinem 34. Geburtstag am 4. Februar 2014 (eigentlich hatte er ein riesiges Party- Weekend auf Sylt geplant – Sansibar, Sturmhaube, Hotel Roter Hahn… also das ganze Programm) gewährt man ihm eineinhalb Stunden Ausgang bis in die Eingangshalle der Klinik. Seine Freunde bürgen für seine pünktliche Rückkehr auf die Station. An diesem Abend wird er den bis heute letzten Tropfen Alkohol trinken. Zurück auf Station öffnet er seine Geburtstagspost, darunter das Buch „Lieber Matz, dein Papa hat ‘ne Meise“ von Sebastian Schlösser. Dieses Buch wird für ihn zum „Startschuss für den Marathonlauf in die richtige Richtung“. Doch es ist erst der Anfang. Das folgende Jahr 2014 verbringt er in der Psychiatrie, die erste Hälfte stationär. Er nimmt neben seiner lebenswichtigen HIV-Medikation nun auch ein Neuroleptikum, was seine Wirkung tut: Die Manie wird weniger, der „Synapsenfasching“ in seinem Kopf kommt zur Ruhe, aber irgendwann rutscht er in eine Depression, was sein verantwortlicher Behandler Prof. Martin Bürgy gerade noch rechtzeitig bemerkt. Er stellt die Medikation um, indem er das Neuroleptikum ausschleicht und Lithium ansetzt. Bürgy ist der einzige, dem Poggenpohl wirklich vertraut, der aber aufgrund seiner Position als Ärztlicher Direktor seinem Patienten nicht diejenige engmaschige Behandlung zukommen lassen kann, die dieser so dringend braucht.
„Selbstdisziplin, Selbstachtsamkeit, Alkoholabstinenz und Medikamente.“
Aber immerhin: Glück gehabt. Seine Stimmung hellt sich von Tag zu Tag auf und stabilisiert sich zusehends. Heute sagt er: „Ich komme nicht umhin festzuhalten, dass es für mich nach wie vor an ein Wunder grenzt, wie sich meine schwersten Depressionen in so kurzer Zeit quasi in Luft auflösten.“ Aber nicht, dass man nun denkt, damit wäre alles gut. Poggenpohl: „Eine erkrankte Seele ist kein Knochenbruch, der in ein paar Wochen wieder zusammengewachsen ist. Sie bedarf, wenn es gut läuft mit der Therapie und dem Heilungsprozess, Monate oder Jahre.“ Er wird noch lange Zeit in der Klinik und dann in der Tagesklinik bleiben, wo er lernt, unter deren schützenden und stützenden Bedingungen, sich langsam wieder an ein „normales“ Leben und eine Halt gebende Alltagsstruktur zu gewöhnen. Die Behandlung braucht Zeit. Zeit, um einen neuen und tragfähigen Boden in sich zu schaffen, der den Gefährdungen und Verführungen dieser gemeinen Grunderkrankung Paroli bieten kann. Auf die Frage, was das Entscheidende in seiner Heilungsgeschichte war, antwortet er: „Selbstdisziplin, Selbstachtsamkeit, Alkoholabstinenz und Vertrauen in die Medikamente.“
„Du hast einen Computer, aber keinen Zugriff auf das Betriebssystem!“
Darüber hinaus hatte er großes Glück in seinem großen Unglück: Professor Bürgy hatte ihn im Blick, hielt die Hand über ihn und intervenierte an den entscheidenden Stellen. Seine Freunde blieben zum großen Teil an seiner Seite und unterstützten ihn, und seine Eltern waren immer zur Stelle, wenn sie gebraucht wurden. Heute sagt er: „Ich will nie wieder eine Manie erleben müssen. Als manischer Mensch bist du ein unaushaltbarer Kotzbrocken! Du hast tausend Ideen, aber du bringst nichts zu Ende! Du hast einen Computer, aber keinen Zugriff auf das Betriebssystem!“
Warum aber nun dieses Buch? Warum diese langen und auch anstrengenden 450 Seiten Krankheits- und Heilungsbericht? „Auf diese Frage“, so Poggenpohl, „gibt es sicherlich viele Antworten, die wichtigste von allen aber ist: Ich möchte Zuversicht schenken. Mein Antrieb in all den Stunden, dies alles zu Papier zu bringen, ist Ihre Zuversicht!“ Torsten Poggenpohl plädiert eindrücklich und immer wieder für den Ausstieg aus dem Opfermodus, denn: „Jammern hilft nicht“. Dieser immer wieder zitierte Satz seiner Großmutter zieht sich durch das Buch wie ein roter Faden. Das Leben ist nicht fair. Aber trotzdem kannst du es selbst in die Hand nehmen und das Beste daraus machen! Guck nicht zurück, sondern nach vorn! So in etwa lautet seine Botschaft.
Für Betroffene und professionelle Helfer lohnt sich dieses Buch allemal. Es lohnt sich aber auch für all diejenigen, die nach Mut und Unterstützung suchen auf dem Weg aus einer existenziellen Krise, weil es ihnen hilft, ihr Leben – allen Widrigkeiten zum Trotz – wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Martina de Ridder
Torsten Poggenpohl: „einfach !ch: schwul.bipolar.positiv“, Books on Demand: 2023, 468 Seiten, ISBN-13: 9783755723493, 19,90 Euro.