Jude, Expressionist – und Opfer der Nazis

Portraitfoto von Jakob van Hoddis, ca. 1911.

Der bedeutende Dichter Jakob van Hoddis, geboren als Hans Davidsohn am 16. Mai 1887 in Berlin und ermordet 1942, vermutlich im polnischen Vernichtungslager Sobibor, gilt als Begründer des lyrischen Expressionismus. Seine Gedichte wurden von ihm selbst im „Neopathetischen Club“ in Berlin vorgetragen und sie galten geradezu als Fanal einer neuen Sichtweise auf gesellschaftliche Umstände. Leidenschaftlich reagierte van Hoddis mit seinen Schriften auf das irritierende Weltgeschehen. Wie beim Gedicht „Weltende“: Acht gereimte Zeilen erfassen symbolisch eine Stimmung, die auch heute, gut 100 Jahre nach ihrem ersten Vortrag, noch und wieder zutreffen.


Mit 25 Jahren wird van Hoddis psychisch auffällig und erstmals psychiatrisch in Berlin behandelt. In den folgenden 15 Jahren unternimmt er viele Reisen und wird in literarischen Kreisen wahrgenommen, er selbst braucht aber immer wieder Unterstützung, die für ihn organisiert wird. Ab 1922 lebt er bei der Familie Dieterle in Tübingen. 1927 wird er mit 40 Jahren nach einer Auseinandersetzung mit Nachbarn von der Polizei in die Universitätsnervenklinik Tübingen gebracht. Die dort gestellte Diagnose lautet „Hebephrenie (Endzustand)“. Nach knapp drei Wochen erfolgt die Verlegung in die Privatklinik Christophsbad in Göppingen, wo er sechs Jahre verbringt. 1933 besucht ihn seine Mutter, die nach Israel emigrieren wird, ein letztes Mal. Seine vorletzte Station sind die israelitischen Kuranstalten Bendorf/Sayn bei Koblenz. Von dort wird er mit weiteren jüdischen Patienten und Personal 1942 nach Sobibor deportiert.

1942 wird er nach Sobibor deportiert

Die Rezeption des Jakob van Hoddis umfasst Veröffentlichungen seiner Werke, Biografien, eine groß angelegte Wanderausstellung mit umfassendem Katalog, die Originalschriften im Literaturarchiv Marbach. Außerdem gibt es in Berlin am Eingang zu den Hackeschen Höfen und in Tübingen an der nach ihm benannten Staffel, die aus der Innenstadt hoch zur Psychiatrie führt, öffentliche Hinweistafeln. Im Park des Klinikums Christophsbad in Göppingen ist zum Gedenken an ihn zusammen mit dem Mahnmal für die Opfer der „NS-Euthanasie“ eine Skulptur mit seinem Schattenriss aufgestellt. Im dortigen Psychiatriemuseum MuSeele befinden sich diverse Dokumente, ein Sonderheft der Seelenpresse und die Krankengeschichte.
Hans Davidsohn, mit Künstlernamen Jakob van Hoddis (ein Anagramm), wurde als Jude, als Expressionist und als Psychiatriepatient Opfer des Nationalsozialismus. Rolf Brüggemann (Diplom-Psychologe und Leiter des Psychiatriemuseums MuSeele im Klinikum Christophsbad).

(Originalveröffentlichung im Rahmen der Serie „Psychiatrie macht Geschichte” im EPPENDORFER 5/23)

Weltende (1911)
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.