Im Krankenhaus West in Stralsund treffen Geschichte und Psychiatrie in verschiedener Hinsicht zusammen – und greifen ineinander. Prof. Harald Freyberger kommt aus dem Westen und leitet nicht nur die klinische Psychiatrie in Stralsund, sondern auch die Universitätspsychiatrie in Greifswald. Anke Hinrichs sprach mit ihm für die Fachzeitung EPPENDORFER über Auswirkungen der jüngeren Geschichte auf die Seele der Menschen – und über aktuelle und innovative Versorgungskonzepte für psychisch kranke Menschen in Mecklenburg-Vorpommern.
EPPENDORFER: Anlässlich des Jubiläums ihrer Klinik in Stralsund haben Sie gemeinsam mit Jan Armbruster ein Buch mit dem Titel „Verwahrung, Vernichtung, Therapie“ herausgebracht. Inwiefern sticht Stralsund innerhalb der Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus besonders hervor?
PROF. HARALD FREYBERGER: Stralsund wurde als Pilotprojekt für die Euthanasie benutzt. Es war die erste Anstalt, die 1939 von Patienten „entsorgt“ wurde. Insgesamt wurden fast 1300 Menschen ermordet. Zwei Drittel in Vernichtungsanstalten, ca. ein Drittel wurde im Wald von SS-Angehörigen erschossen, das ist einzigartig in der Geschichte der Euthanasie. Danach diente die Anlage als landwirtschaftliche Versuchsanstalt, als SS-Kaserne und als SS- und Wehrmachts-Lazarett, in dem auch psychisch kranke Soldaten behandelt wurden. Mit viel Druck und Arbeitstherapie. Wer nicht zurückversetzungsfähig wurde, wurde vermutlich liquidiert, aber darüber fehlen schriftliche Nachweise.
Abgesehen davon gab es auch in Stralsund das typische Vorspiel im Ersten Weltkrieg. Ein stilles, aber hier besonders exzessives Euthanasiedrama. Im Zuge der Hungersnot in Deutschland haben vermutlich Bürger Produkte der Latifundien, aus denen sich die Anstalt selbst versorgte, gestohlen. Zwischen 1916 und1918 sind fast 50 Prozent der damaligen Insassen verhungert.
EPPENDORFER: Wie sah die DDR-Psychiatrie aus?
FREYBERGER: Die Zustände waren desaströs. Die ambulante psychiatrische Versorgung erfolgte v.a. durch die Polikliniken, also in Großpraxen. Das sozialpsychiatrische System war v.a. betriebsorientiert, wie alles damals eine stärkere Bindung an die Arbeit hatte. Es gab weder Übergangswohnheime noch Tagesstätten, wenig Therapeuten. Hier, im damaligen Bezirkskrankenhaus, gab es einen permanenten Betten- und Personalmangel, ganz abgesehen von der schlechten Bausubstanz.
EPPENDORFER: 1997 haben Sie die Leitung der Klinik übernommen, was haben Sie vorgefunden und wie waren die Reaktionen auf Sie als Westdeutscher?
FREYBERGER: Das war damals ein traditionelles 100-Betten Haus ohne Tagesklinik. Ich habe die letzten Netzbetten abgeschafft. Grauenvoll. Bis 2004 wurde die Klinik baulich an vernünftige Standards angepasst. Heute haben wir 137 Betten und 95 Tagesklinikplätze zuzüglich 25 teilstationäre Plätze in Greifswald und eine große Ambulanz. Inzwischen gibt es auch das gesamte Netz an psychosozialen Trägervereinen.
Ich habe damals acht Leute mitgebracht, und am Anfang war der Mix aus alteingesessenem und neuem Personal aus dem Westen etwas schwierig. Heute spielt der Ost-West-Hintergrund bei den jungen Assistenzärzten keine Rolle mehr, bei den Älteren gibt es teils noch Ambivalenzen. Was mich am meisten überrascht hat, war, dass die Patienten selbst keine Zwiespältigkeiten zeigten, die waren neugierig und offen. Zum Teil wollten die sogar lieber von einem Westarzt behandelt werden. Das hat den Hintergrund, dass die DDR-Psychiater früher im Verdacht standen, sich nicht an die Schweigepflicht zu halten und mit der Diktatur bzw. der Stasi zusammenzuarbeiten.
EPPENDORFER: Inwiefern unterschieden bzw. unterscheiden sich Patienten aus West bzw. Ost in Bezug auf die psychiatrischen Auffälligkeiten?
FREYBERGER: Es gibt drei Besonderheiten. Wir stellen hier 50 Prozent weniger Essstörungen fest. Dahinter steht wohl zum einen ein anderes Frauenbild, eine andere Geschlechtsidentität. Andererseits muss man auch sehen, dass besonders viele junge Frauen mit vergleichsweise hohen Bildungsabschlüssen die Region verlassen und den Essstörungsanteil auch sozusagen exportiert haben. Ähnliches kann auch für die Abhängigen von illegalen Drogen angenommen werden. Zum einen gab es in der DDR kaum harte Drogen, dafür wurde mehr exzessiv Alkohol konsumiert. Andererseits sind wohl viele Suchtkranke wegen der besseren Beschaffungssituation nach der Wende in westdeutsche Großstädte abgewandert. Weitere Besonderheit ist der immense Alterungsprozess. Ansonsten gibt es bei den Prävalenzraten keine Unterschiede, und die sehr hohe Suizidrate zu DDR-Zeiten hat sich nach der Wende normalisiert.
EPPENDORFER: Dabei sind Sie hier auf ein besonders großes Traumapotential gestoßen, als Folge von Nazizeit und Flucht. Auch auf Frauen, die damals Opfer von Kriegsvergewaltigungen geworden waren und daraus entstandene Kinder sind Sie hier getroffen. Und dann die Folgen der DDR-Psychiatrie und -Diktatur, die Sie ebenfalls im Rahmen ihrer Forschung untersucht haben.
FREYBERGER: Ja, neben der großen Gruppe von geschätzten 250.000 politischen Häftlingen, die es gab, haben wir uns auch mit den kaum erforschten Folgen der so genannten Zersetzung beschäftigt, worunter Strafen fallen, die strafrechtlich nicht erfassbar sind. Das reichte von Telefon- und Videoüberwachung über geheime Wohnungsdurchsuchungen bis zum Organisieren beruflicher Misserfolge. Auch die Psychiatrie an sich wirkte traumatisierend, hinzu kommt der große Bereich der DDR-Heimkinder.
Feststellbar ist aber heute kein erhöhtes Vorkommen psychiatrischer Erkrankungen, wohl aber ein erhöhter Schweregrad: Schizophrene im Osten sind kränker als solche im Westen. Vor allem Ältere, die nicht gut gefördert, häufiger in der Klinik und weniger integriert waren.
Was hier heute noch als Faktor erschwerend hinzukommt ist der schwierige materielle Hintergrund der Patienten. Angesichts hoher Strukturarbeitslosigkeit und mehr Frühverrenteten sind hierzulande 30 bis 35 Prozent im Erwerbsfähigenalter nicht erwerbstätig.
EPPENDORFER: Sie arbeiten in einem ungewöhnlichen Konstrukt. Sie sind ärztlicher Direktor in Stralsund und einer Universitätspsychiatrie in Greifswald, die über keine Betten verfügt.
FREYBERGER: Anfang der 90er Jahre wurde die Psychiatrische Universitätsklinik am Standort Greifswald auf Anraten des Wissenschaftsrates aufgelöst und die örtliche Versorgung an einen konfessionellen Träger verlagert. Zwischen der Universität Greifswald, dem Land und dem Klinikum Stralsund wurde dann ein Kooperationsvertrag geschlossen, der die Mitnutzung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Stralsund als Universitätsklinik regelt. Mittlerweile haben wir in Greifswald neben Forschung, Lehre und Institutsambulanz wieder eine universitäre Tagesklinik mit 20 Plätzen für psychosomatisch Erkrankte und ältere Menschen. Aber langfristig ist die Universität Greifswald ohne eigene Psychiatriebetten nicht mehr konkurrenzfähig. Allein, weil wir einen vernünftigen Konsiliardienst brauchen.
EPPENDORFER: Noch etwas ist besonders hier: Sie haben als Professor einen öffentlichen Arbeitgeber, aber im Bereich der Krankenversorgung private Geschäftsführer von Helios im Hintergrund. Wie empfinden Sie das Arbeiten unter einem privaten Gesundheitsanbieter?
FREYBERGER: An vielen Psychiatrien kommunaler Träger werden tiefschwarze Zahlen geschrieben, die aber für Quersubventionierungen in Richtung defizitärer Somatikbereiche genutzt werden. Ich habe den Eindruck, dass hier im Privatbereich mehr Transparenz herrscht und dass Bereiche, die erfolgreich sind, auch eher unterstützt werden. Außerdem sind innovative Konzepte, wenn man sie plausibel macht, nach meinem Eindruck schneller umsetzbar. Wir haben hier zum Beispiel ganz unkompliziert drei Tageskliniken eingerichtet, und auch die Schaffung unserer Psychomobile und aufsuchenden Dienste war gegen den Nachweis, dass sich das rechnet, gut umsetzbar.
EPPENDORFER: Und die Renditeorientierung?
FREYBERGER: Auch kommunale Kliniken müssen mittlerweile Rendite erwirtschaften, da die Zuschüsse rückläufig sind, in Mecklenburg-Vorpommern fließen schon keine Mittel mehr in Krankenhausfinanzierung. Es ist die Frage, um wie viel Rendite es geht. Wenn Helios innerhalb von fünf Jahren nach Übernahme 15 Prozent erwartet, muss man sich fragen, ob das rea-listisch ist. Zehn bis zwölf Prozent sind ohne gravierende Einbrüche der Qualität gut zu erwirtschaften.
EPPENDORFER: Sie arbeiten in einem Flächenland mit besonders großem Ärztemangel, was zu entsprechenden Mängeln im ambulanten Bereich führt. Wie gehen Sie als Versorgungsklinik damit um?
FREYBERGER: Wir haben einige Pilotprojekte geschaffen. Unsere Tageskliniken vor Ort haben alle Ambulanzen und behandeln auch genauso schwere Fälle wie der stationäre Bereich, 50 Prozent der Tagesklinikpatienten waren nie im Klinikum. Außerdem haben wir unsere Psychomobile eingeführt: Sozialarbeiter und Fachärzte fahren mit einem VW Golf über das Land und leisten bei Bedarf und Wunsch Hometreatment. Da aber die Angst vor Stigmatisierung v.a. in kleinen Dörfern recht groß ist, wollen viele Patienten nicht zuhause besucht werden. Deshalb halten wir für diese Menschen regelmäßig Sprechstunden in allgemeinmedizinischen Praxen ab. Angesichts der dramatischen Unterversorgung im ambulanten Bereich sind die Kassen hier sehr diskussionsbereit und aufgeschlossen. Die Tageskliniken arbeiten neuerdings auch mit Nachbetreuung per SMS. Dabei werden die Klienten regelmäßig angesimst und gefragt, wie es ihnen geht und ob sie Hilfe brauchen. Das hat die Haltefähigkeit bemerkenswert verbessert.
EPPENDORFER: Wenn die tagesklinische Arbeit so gut funktioniert, könnten ja viele Betten überflüssig sein?
FREYBERGER: Wenn nicht die außergewöhnlich vielen gerontopsychiatrischen Patienten wären und diejenigen mit einem hohen Bedürfnis, aus ihrem Milieu herauszugehen. Von denen gibt es viele.
EPPENDORFER: Ihr Vater Prof. Hellmuth Freyberger leitete früher die Abteilung für Psychosomatik der Medizinischen Hochschule Hannover. Mit ihm haben sie auch gemeinsam gearbeitet, so haben sie zusammen die psychotraumatischen Belastungsstörungen bei Holocaust-Überlebenden beforscht. Warum sind Sie Psychiater geworden?
FREYBERGER: Nach dem Abi wollte ich Psychologe oder Journalist werden. Als ich dann Zivildienst in der geschlossenen Aufnahme der Universitätspsychiatrie in Hamburg-Eppendorf machte, hat mir das dort unheimlich gut gefallen. Ich fand die Psychiatriepatienten interessant und spannend. Und es ist mir ein großes Vergnügen, mich mit den Konflikten, Strukturen und Problemen auseinander zu setzen. Man kann enorm viel machen und bewirken in der Psychiatrie, da ist das Fach in seiner Darstellung zu passiv. Ich mache es bis heute mit größter Begeisterung. Anke Hinrichs (Originalveröffentlichung EPPENDORFER 7 &8 2012)