West-Ost – Zwei Psychiater, ein Vergleich

Nazidiktatur, Teilung, Wiedervereinigung: Die Geschichte hat Ost- und Westdeutsche über den Weg zweier Diktaturen zu unterschiedlichen Lebens- und Wahrnehmungswelten geführt. Anlässlich einer Fachtagung haben die Psychiater Prof. Harald Freyberger (geb. 1957) und Privatdozent Ulrich Bahrke (Jahrgang 1955) diese inneren Welten aus zwei verschiedenen Perspektiven reflektiert: Freyberger aus Sicht eines Westdeutschen, der in den Osten ging, während Bahrke aus Halle heute in Westdeutschland lebt und lehrt.

Für die Bewahrung der eigenen Identität ist es wichtig, sich zu unterscheiden, schickt Freyberger seiner Reflexion als Hypothese voran. Unterschiede sieht Freyberger v.a. in den weiblichen Biographien. Und er sieht sich im Osten mit einer hohen Anzahl von Traumatisierungsfolgen konfrontiert – Flüchtlinge hatten die Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns am Ende des Zweiten Weltkriegs mehr als verdoppelt. Erstmals trifft er auf weibliche Opfer von Kriegstraumatisierungen, v.a. durch russische Soldaten, und auf die daraus resultierenden Kinder – deren Gesamtzahl in Ostdeutschland auf etwa 60.000 geschätzt wird. Er trifft auf Opfer beider Diktaturen. Geschätzt seien 8 bis 12 Prozent der Mecklenburg-Vorpommern „Gegenstand manifester Verfolgung durch das NS-Regime und der späteren DDR-Diktatur“ geworden.

Sein „vorläufiges Resümee“: Westdeutsche, die in die neuen Bundesländer gehen, würden mit den manchmal nur unterschwellig spürbaren Folgen von Unterdrückung und Verfolgung konfrontiert, die das Leben in der DDR gekennzeichnet haben. Dies könne bei Westdeutschen zur Reaktualisierung früh erworbener traumatischer Erfahrungen führen, die in der Kindheit oder in der Jugend im autoritär geprägten Nachkriegsdeutschland erworben wurden. Freyberger spricht von einer hier beginnenden „kollektiven Amnesie“ im Osten – die dem Umgang der Westdeutschen mit ihrer eigenen NS-Geschichte ähnele, – die die Folgen von der politischen Repression verleugne, die bis heute auch für die Nachfolgegeneration von großer Tragweite seien. Er sieht auch bei sich Misstrauen, dergestalt, dass er sich als Westdeutscher frage, ob der andere wirklich nicht aktiv im Repressionssystem mitgearbeitet habe – zu tief verwurzelt sei die Versicherung vieler Westdeutscher, sie hätten von den Gräueltaten des NS-Regimes nichts gewusst. „Ich begegne also meiner eigenen Vergangenheit auf eigentümliche Weise wieder“. Gefragt sei eine „formidable Bewältigungsleistung, die ich keineswegs abgeschlossen habe.“
Ulrich Bahrke hat v.a. die Verharmlosung der DDR-Diktatur im Visier. Seine Kernthese ist die einer kollusiven Abwehr, einem unbewusst abgestimmten Zusammenspiel, die die Verharmlosung der DDR-Diktatur darstelle. Ihr Zweck: Sie solle schützen vor Schuld und Scham für Verstrickungen und Ausblendungen sowohl auf ost- als auch auf westdeutscher Seite.
Für ihn selbst sei nicht die Teilung Zumutung gewesen, sondern das Aufwachsen in einer „Gesellschaft individueller Ohnmacht und Demütigungen“. Früh begann er sich selbst zu kontrollieren, schildert Bahrke, studierte und zahlte als „Anpassungspreis“ den Grundwehrdienst – nicht aber an der Grenze, das war sein Spielraum.

Nach der Wiedervereinigung folgten Ungleichgewichte. Durch mangelnde Anerkennung etwa. Bis heute habe Deutschland nicht die mutige Revolution in sein Selbstbild integriert, hier dominiere vielmehr der Mauerfall. Es folgten Kränkungen durch mangelnde Augenhöhe, durch „ungleiche Bewertungen, Dominanz und Arroganz“, aber auch Desinteresse.
Das totalitäre Regime habe in irgendeiner Form bei jedem seelische Spuren hinterlassen. Teils pauschale Trauma- und Kollektivneurose-Diagnosen, die teils über die Ostdeutschen ausgeschüttet worden seien, seien aber nur der Abwehr dienlich gewesen. Als Steigerung sei auch, in Parallelisierung von NS- und DDR-Diktatur, massenhaft Schuld zugewiesen worden: „Möglicherweise fand so manche versäumte oder versäumt geglaubte Konfrontation mit der NS-Schuld nun am DDR-Bürger statt.“ Dabei seien die DDR-Machthabenden nie durch mehrheitliche Identifizierungen getragen worden, stellt Bahrke klar: „Wir dortigen Bewohner waren ganz überwiegend zuallererst Opfer einer ideologieverbrämten Fremdherrschaft mit einer beträchtlichen, ebenfalls ideologie-begründeten Kollaboration“.

Abwehr sieht er auch in einem anderen Punkt: Die alten Nazis wurden in den Westen verortet, „nur hier in der DDR, da haben die 17 Millionen Deutschen magischerweise nie etwas mit der NS-Zeit zu tun gehabt.“ Projektionstendenzen lebten auch nach der Wende fort, meint Bahrke. „Vor allem in einer sowohl ost- als auch westdeutschen Verharmlosung der DDR-Diktatur.“ Der Wunsch, „sich dem Schmerz alter Demütigungen durch das Regime, Schuldgefühlen der Mittäterschaft und Schamgefühlen für die Anpassung und Unterwerfung nicht zu stellen, verbindet sich hier gelegentlich mit trotziger Selbstbehauptung“ und werde von den Linken „parasitär genutzt“, kritisiert der Analytiker. Aber auch bei Westdeutschen habe er bislang selten Anzeichen von Scham über ideologiebedingte frühere Sympathien mit den sozialistischen Diktaturen wahrnehmen können.
Wo liegt der Ausweg aus Bahrkes konstatierter kollusiver Abwehr? Neuere Entwicklungen in Kunst und Literatur stimmen ihn abschließend verhalten optimistisch, das der „Latenzschutz des gesellschaftlich produzierten Unbewussten“ inzwischen weniger erforderlich sein und einer wahrhaftigeren Begegnung und Auseinandersetzung Platz machen könnte.

Anke Hinrichs / Originalveröffentlichung: Eppendorfer 9/2012