Therapie
mit Poesie

Sprache kann tief ins Innere greifen - und Poesietherapie kann Heilkraft entwickeln. Symbolfoto: pixabay

Der Ort:  eine Beratungsstelle in Hamburg St. Pauli. Die Zeit:  Dienstag: 14.30 – 16 Uhr. Der Anlass:  Schreibwerkstatt. Die Teilnehmerinnen: Vier (Ex-) Prostituierte. Die Aufgabe lautet: Schreibe einen kleinen Text oder ein paar Sätze und lass jedes Wort mit einem „W” anfangen. Denke nicht nach, sondern schreibe aus deinem Gefühl. Du hast zehn Minuten Zeit! Vier Frauen beugen ihre Gesichter über das leere Blatt Papier, das vor ihnen liegt, und nach kurzer Zeit sind u.a. folgende Sätze entstanden: „Wo Wodkaflaschen wandern wollen wollüstige Weiber wortlos weilen.” Und: „Weinen würden wir wahrscheinlich weder wahlweise wiewohl widersinnig. Wutanfälle wollen wirkungsvoll wahrgenommen werden.“

Es ist unschwer zu sehen, wieviel kostbares Seelenmaterial in diesen wenigen Sätzen liegt. Die Frauen sind berührt, erstaunt, fast ein wenig erschrocken, was da plötzlich zu Tage tritt: Trauer und Wut, Lust und Sucht, skurrile Kompositionen innerer Befindlichkeiten und Affekte. Und sie kommen ins Gespräch über die Erfahrungen während der Zeit der Prostitution. Sie kommen in Kontakt mit den tieferen Gefühlen, die sie seit langer Zeit verborgen haben und sie machen die heilsame Erfahrung, dass sie nicht allein sind. Dies ist eine weitere positive Wirkung des Schreibens in der Gruppe: einerseits ganz bei und mit sich allein zu sein (im Prozess des Schreibens) und gleichzeitig die Möglichkeit zu haben, sich mit den anderen Gruppenmitgliedern zu verbinden, indem das Geschriebene in der Gruppe veröffentlicht und besprochen werden kann.

Apollon war nicht nur Gott der Heilkunst, sondern auch der Dichtkunst

Dass Sprache eine große Heilkraft haben kann, wussten schon die alten Griechen, und Apollon war nicht nur der Gott der Heilkunst, sondern ebenso der Gott der Dichtkunst: „Die antiken Zeugnisse sind vielfältig und verweisen auf zwei Formen der Praxis: das rezeptive Hören oder Lesen heilsamer Worte, aus dem biblios, aus dem Buch, und das aktiv-produktive Gestalten mit Worten, die poiesis, was zugleich eine Möglichkeit ist, selbst wirkmächtig, wirklichkeitsgestaltend zu werden.“ So Ilse Orth in einem Interview in  der Zeitschrift „Textpraxis“ 2015  „Unsägliches sagbar machen“. Umso erstaunlicher ist es, dass die Poesie- und Bibliotherapie, die als therapeutisches Verfahren seit mehr als dreißig Jahren an der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit gelehrt wird, bisher so wenig Beachtung gefunden hat. In den therapeutischen Angeboten stationärer als auch ambulanter psychiatrischer Einrichtungen fristet sie ein Schattendasein. Diesem traurigen Befund zum Trotz ist nun ein Buch erschienen, welches  sich mit den Möglichkeiten befasst, die in der poesie- und bibliotherapeutischen Arbeit mit Patienten liegen. In ihm werden die Ergebnisse und Erfahrungen aus mehr als dreißig Jahren wissenschaftlicher und praktischer poesie- und bibliotherapeutischer Arbeit zusammengetragen und beleuchtet. *

Schwerwiegende Fundgrube  mit über 1000 Seiten 

Zugegeben: Dieses Buch verlangt dem Leser einiges ab. Es zählt mehr als tausend Seiten und liegt schwer in der Hand.  Aber für Menschen – insbesondere für professionelle Helfer, die sich für die Möglichkeiten der Heilkraft der Sprache interessieren, ist es ein unbedingtes Muss. In mehr als dreißig Kapiteln werden sowohl die theoretischen Grundlagen als auch v.a. die Praxis poesie- und bibliotherapeutischer Verfahren dargelegt und sehr genau beschrieben, so dass viele Texte Therapeutinnen und Leitungen von  therapeutischen Schreibgruppen als gute Orientierung und als Leitfaden dienen können.

Das Buch ist eine Fundgrube für jeden, der im sprachlichen Feld therapeutisch oder selbsterfahrungsorientiert arbeitet. Es gibt keine Begrenzung : Kinder, Jugendliche, Krebspatienten, Schüler, Sterbende, Süchtige, Depressive, Erschöpfte, Trauernde, Studenten, alte Menschen. Für sie alle – so wird es hier überzeugend dargelegt – kann die Poesie- und Bibliotherapie ein Türöffner sein für das Verständnis des eigenen Inneren. Wegen der Fülle der Texte sei hier einer beispielhaft herausgegriffen:

Gruppensitzungen auf Station: So geht’s

Brigitte Leeser (auf psychiatrischen Stationen tätige Poesietherapeutin) strukturiert poesietherapeutische Gruppensitzungen, die sie dort regelmäßig anbietet, in folgender Weise:

Vor Beginn sei es wichtig, so Leeser, einen „gastlichen Raum“ zu gestalten (dies scheint überflüssig zu erwähnen, aber wenn man sich anschaut, wie Gruppentherapieräume in Kliniken heute aussehen – nämlich oftmals unordentlich, ungepflegt und manchmal gar verwahrlost -, so ist dies leider ganz und gar kein überflüssiger Hinweis), denn bereits hier beginnt – getreu des Satzes: „Der Anfang setzt die Struktur“ der therapeutische Prozess. 

„Ich bereite den Raum vor, lege Papier zum Schreiben und Malen in die Mitte, manchmal auch Blumen und andere haptisch interessante Gegenstände…..“ so Brigitte Leeser.

Nun beginnt die „Initialphase“, die mit einer Befindlichkeitsrunde der Teilnehmer/innen beginnt – oftmals unterstützt durch kleine Impulse („Drücken Sie Ihr Befinden mittels einer Geste aus!“ oder ein kleines Objekt wird von Hand zu Hand gereicht, was den Tastsinn anregt und sich positiv auf die Gruppenkohäsion auswirkt). Sodann erfolgt die Einstimmung aufs Thema, und auch hier führen viele Wege nach Rom: eine Phantasiereise, eine Imagination, ein kurzer Text oder ein Gedicht wird vorgelesen….

Das Blatt Papier ist definiert als ein „eigener geschützter Raum”

Nach dieser Einführung beginnt die „Aktionsphase“, d.h. die Teilnehmenden werden ermutigt – aber niemals gezwungen – selbst ins schöpferische Tun des Schreibens zu kommen. Die Schwelle wird bewusst niedrig gehalten und das Blatt Papier ist definiert als ein „eigener geschützter Raum“. In gelungenen Momenten entsteht in dieser Phase eine Atmosphäre von gleichzeitiger Entspannung und Konzentration, auf jeden Fall aber das gemeinsame Erleben der je eigenen Kreativität. 

In der dritten Phase geht es um die Integration des Erlebten, die eigenen Erfahrungen werden unter- und miteinander in Kontakt gebracht. Leeser ermutigt die Teilnehmenden, ihre Texte vorzulesen, denn „im Vorlesen bekommt der Text einen eigenen Körper und steht als Eigenes im Raum“, das betrachtet werden kann. Bei dem anschließenden feed back folgt die Gruppe dem „suspended judgement“, d.h. jede/r wird gebeten, seine Bewertungen wahrzunehmen, diese aber – aus Respekt vor der Andersheit des Anderen – nicht auszusprechen. Durch die häufig im sharing erlebte Solidarität können die Schreibenden als auch die Hörenden die Erfahrung machen, dass sie „in ihren freudigen und manchmal auch leidvollen Erlebnissen nicht allein sind“. 

Transfer des Erlebten und Erkannten in den Alltag

Die letzte Phase (der Neuorientierung) dient dem Transfer des Erlebten und Erkannten in den Alltag. Hilfreich kann hierbei eine Verdichtung des geschriebenen Textes auf ein Wort, eine Überschrift oder einen Dreizeiler sein. Dieses Mittel – so Leeser – ermögliche eine Form der Distanzierung, ohne die Qualität des Berührtseins zu verlieren. 

Den Abschluss der Sitzung bildet eine kurze Reflexion des Ablaufs: Was habe ich Neues erfahren? Was nehme ich davon in meinen Alltag mit?

Und auch, wenn dies nicht jede/r Patien/in gleich beschreiben oder gar definieren kann: Auf jeden Fall haben sie die Erfahrung gemacht, dass sie ihrem Innern einen Ausdruck verleihen können und dass sie selbst die Experten und Gestalter ihres Lebens sind. Viktor Frankl drückt es so aus: „Der Mensch ist nur da wirklich Mensch, wo er sich die Geschichte seines Lebens nicht diktieren lässt, sondern sie selber schreibt.“

Vorsicht: Sprache kann tief ins Innere greifen!

Und trotzdem: für alle, die in professionellen und verantwortlichen therapeutischen Funktionen und Rollen poesietherapeutisch mit Patienten arbeiten, ist es wichtig zu beachten, dass Sprache – auch und gerade das selbst verfertigte Sprechen und Schreiben der Patienten –  tief ins eigene Innere greifen kann und dem ist nicht jede/r Patient/in gewachsen. So kann z.B. die schlicht und harmlos anmutende Aufforderung, einen Haiku* oder ein Elfchen** zu einem bestimmten Thema zu verfassen, zu einem so hohen Maß an  formaler und in der Folge auch emotionaler Verdichtung führen, dass Patienten sich mit dem eigenen Geschriebenen überfordert fühlen. Hier ist es wichtig, dass man über therapeutisches Handwerkszeug verfügt und den Patienten Möglichkeiten bereitstellt, die eigenen Texte zu verstehen, sie auch aus der Distanz zu betrachten und letztendlich in guter Weise zu integrieren.  Martina de Ridder (Originalveröffentlichung: EPPENDORFER 5/2018)

„Wenn Sprache heilt:  Handbuch für Poesie- und Bibliotherapie, Biographiearbeit und kreatives Schreiben. Festschrift für Ilse Orth“ , Aisthesis (Bielefeld) 2018. 1038 Seiten, 88 Euro

Stichwort: Poesietherapie

Poesietherapie ist – wie Musik- oder Tanztherapie – eine künstlerische Therapieform, die verwendet wird, um Heilungsprozesse zu unterstützen und die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Sie entwickelte sich zunächst unabhängig von der Bibliotherapie, bei das Lesen vielfältigster Literatur therapeutisch genutzt wird. In den USA und Skandinavien sind Poesie- und Bibliotherapie verbreiteter als im übrigen internationalen und europäischen Raum.  Eine der bekanntesten Anleiterinnen von Schreibkursen ist die Autorin Siri Hustvedt, die einst als Freiwillige  Schreibkurse in einer Psychiatrie anleitete. Die Poesie- und Bibliotherapie in dieser kombinierten Form wurde in Deutschland in den 1970er Jahren von Hilarion Petzold und Ilse Orth zur Integrativen Poesie- und Bibliotherapie weiterentwickelt. Angesiedelt ist sie beim Fritz-Perls-Institut für Integrative Therapie, wo auch ein ausführliches Curriculum für die dort angebotenen Aus- und Fortbildungen entwickelt wurde. (www.eag-fpi.com).  Informationen erteilt auch die Deutsche Gesellschaft für Poesie- und Bibliotherapie (s. www.dgpb.org)  (rd)