Manche psychischen Beschwerden haben organische – oder auch medikamentöse – Ursachen und müssten entsprechend behandelt werden. Doch oft dauert es Jahre, bis diese erkannt werden. Ein reichhaltiges neues Kompendium will helfen, Fehler zu vermeiden.
Die Gynäkologin ist eigentlich für ihren Optimismus bekannt. Doch zunehmend fällt ihr die Arbeit schwer. Sie zweifelt, arbeitet weniger, beschließt gar, die gut gehende Praxis aufzugeben. An Reisen ist nicht mehr zu denken. Dabei galt die Frauenärztin bis dato als besonders reisefreudig und war erst vor einigen Wochen in Afrika. Ob sie ihre Malariaprophylaxe „Lariam“ noch nehme, fragt eine Freundin – und da fällt der Groschen. Wird doch der Wirkstoff Mefloquin mit Nebenwirkungen wie Angst, Depression und Psychosen in Verbindung gebracht. Nach Absetzen des Medikaments gewinnt die Ärztin ihre Lebensfreude zurück – und schmiedet wieder Reisepläne.
Neues Kompendium
Viele an sich unbedenkliche Medikamente können auf die Psyche schlagen. Dies gilt es zu bedenken. Zumal Antidepressiva auch bei diesen sekundären Depressionen wirksam seien, wie es in dem Kompendium „Wirklich psychisch bedingt? Somatische Differentialdiagnosen in der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie“ heißt. Medikamente sind nur ein kleiner Ausschnitt einer großen Bandbreite an Problemen und Krankheiten, die angesichts auftretender psychischer Symptome und unzureichender Diagnostik übersehen werden können. Die Herausgeber PD Dr. med. Dr.-Psych. Ulrich Lamparter und Dr. med. Hans Ulrich Schmidt haben eine Vielzahl von Fachautoren, überwiegend aus dem Umfeld des Universitätsklinikums Eppendorf, ins Boot geholt, um dieses wichtige, 472 Seiten starke Nachschlagewerk auf den Weg zu bringen.
Lange Leidenswege für Patienten
Warum solch ein Buch, wo doch so lange darum gekämpft wurde, den ärztlichen Blick gerade für psychische Dimensionen zu öffnen? Weil dieser Blick eine Ergänzung braucht, wie die Herausgeber meinen, denn sie selbst haben auch andere Erfahrungen gemacht: „Gerade bei seltenen wenig bekannten primär somatischen Krankheitsbildern oder Problemen werden die Symptome eines Patienten fälschlicherweise als psychisch bedingt aufgefasst.“ Oft müssen die Patienten dann lange Leidenswege ertragen, wie in diversen Fallbeispielen anschaulich deutlich wird.
So wie bei der 28-jährigen Patientin, die monatelang unter schweren Kopf- und Nackenschmerzen litt. Bei der Physiotherapie findet sie keine Hilfe, und als auch der Neurologe und ein Hals-Nasen-Ohrenarzt nichts finden können, rät der Hausarzt der Frau wegen der ihm bekannten chronischen Ehekrise zu einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Es erfolgt Problemaufarbeitung – doch die Schmerzen bleiben. Erst nach einjähriger Behandlung werden Kieferprobleme als Verursacher ausgemacht.
Syphilis zu spät erkannt
Manchmal kommt die richtige Hilfe auch zu spät: Ein anderer Schmerzpatient, dem in einer Schmerzklinik gar die Diagnose Schizophrenie angeheftet wurde, litt vermutlich an so genannter Neuro-Lues, wie das Spätstadium einer Syphilis-Erkrankung heißt. Die hätte bei rechtzeitiger Penicillin-Gabe wohl gut behandelt werden können. Nun aber zwang sie den offenbar zu lange in die „Psycho-Ecke“ geschobenen Patienten zu einem Leben mit Bettlägrigkeit, Einnahme von Opiaten, ohne Sport und Arbeit.
Ein eher ungewöhnlicher Fall. Eher klassisch dagegen die Fehldeutung einer Schilddrüsenüberfunktion als Angststörung. In der Psychotherapie würde bei Patienten dann nicht selten das Festhalten an den – ja noch vorhandenen – Symptomen als Widerstand gegen die Psychotherapie gedeutet. Oft seien die Patienten selbst nicht unbeteiligt an vorschneller „Psychogenie-Zuschreibung“. Und besonders schwierig werde es, wenn Symptome erst während der Therapie erstmals auftreten: Dann werde ein geschildertes Symptom wie ein Kribbeln eher als Angstäquivalent eingeschätzt werden statt an beginnende Multiple Sklerose oder Polyneuropathie zu denken. Hier helfen z.B. Indikationskonferenzen und Zweitsichten von Medizinern.
Spezialisierung als Problem
Weitere Knackpunkte des modernen Gesundheitswesens, die die Herausgeber konstatieren: zunehmende Hochspezialisierung, wodurch ein Patient leichter zum „Irrläufer“ werden könne, weil jemand fehlt, der den Gesamtüberblick hat, und die zunehmende Inanspruchnahme von Psychotherapie durch ältere Menschen, so sinnvoll sie ist.
Aber auch hier ist nicht alles psychogen, was so erscheinen mag, etwa wenn ein ängstlicher Patient zurecht nachts Angst vor Stürzen hat, weil er wegen der Einnahme von Blutdrucksenkern Gleichgewichtsprobleme hat. Schließlich kritisieren die Herausgeber als Folgen fortlaufender Ökonomisierung ein zunehmendes Wieder-Aus-
einanderklaffen zwischen technologischer und körperorientierter Medizin und einer für das Seelische zuständigen Psychotherapie.
Das Ziel: Fehlervermeidung
Lamparter und Schmidt fordern dagegen eine gleichrangig integrierende Behandlung. Ihr Werk vereint einen umfangreichen Abriss von Krankheitsbildern, unter denen nachgeschlagen werden kann. Von Herzbeschwerden und Allergien bis zu Krebs, Epilepsie und Endometriose und Gastritis oder Asthma. Darstellungen von klinischen Zeichen und Fallstricken der somatischen Diagnostik werden durch Fallbeispiele verdeutlicht. Den Herausgebern geht es erklärtermaßen um die Vermittlung klinischer Erfahrung mit dem Ziel von Fehlervermeidung. Zusammengetragen haben sie einen sehr medizinischen und sehr wertvollen Schatz, der Ärzten aus Somatik, Psychiatrie und Psychotherapie als Lesebuch ans Herz gelegt sei. Anke Hinrichs
(Originalveröffentlichung EPPENDORFER 2/2019)
Ulrich Lamparter, Hans-Ulrich Schmidt (Hrsg.): „Wirklich psychisch bedingt? Somatische Differenzialdiagnosen in der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie“, Schattauer, 2018, 472 S., 59,99 Euro.