Was meint Mentalisierung* und was bedeutet dies in der Akutpsychiatrie und für den Umgang mit Psychosekranken? „Technische Aspekte“ von Psychotherapie stehen dabei an zweiter Stelle. Es geht in erster Linie um Haltung und Atmosphäre mit dem Ziel, über Erkennen und Verstehen von Unbewusstem seitens der Behandler beim Patienten eine Art Grundvertrauen als Basis für Veränderungen herzustellen. Näheres dazu erläuterte in einem Fachvortrag Dr. Claas Happach. Der Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie leitet die Klinik des Bethesda-Krankenhauses in Hamburg Bergedorf. Er ist auch Psychoanalytiker und lernte bei Peter Fonagy und Anthony Bateman in London die auf Mentalisierung basierende Therapie (MBT). Die psychotherapeutische Arbeit in seiner Klinik basiert auf psychodynamischen und systemischen Aspekten.
Ausgangspunkt des Konzeptes ist die Annahme, dass Psychose einen Sinn hat und ein Patient dabei Unbewusstes aus frühen Beziehungen handelnd ausdrückt, wobei das Personal der Klinik hineingezogen wird – und angehalten ist, zu verstehen. Dabei wird davon ausgegangen, das beim Patienten die Mentalisierungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Dies meint die Fähigkeit, sich einfühlen und hineinversetzen zu können – in andere und in sich. Sich seiner eigenen seelischen Innenwelt bewusst zu sein bzw. zu wissen, was man selbst denkt, wünscht und fühlt und entsprechend zu handeln bzw. nicht zu handeln – und sich von impulsivem, zerstörerischem Verhalten distanzieren zu können anstatt Wut auszuagieren.
„Die Psychose hat …einen Sinn. Sie ist Anzeichen und Ausdruck einer zwischenmenschlichen Katastrophe, die zu einer Abkehr von der gemeinsamen, mit anderen geteilten Realität führte. Dem entspricht die ethische Pflicht, der Anspruch auf eine „Rückholaktion“.
*Müller, T. und Lemma, G. (1998): „Die psychoanalytische Haltung in der Behandlung von Psychosen.“
Der Fokus der Behandlung liegt im Hier und Jetzt. Zentrale Aufgabe ist die Verbesserung und Stabilisierung der Mentalisierungsfähigkeit – in „Mentalisierung durch mentalisieren“ – und nicht die Entwicklung von Einsicht. Verstehensprozesse finden zuerst im Kopf des Therapeuten bzw. im Team statt, so Happach. Bevor der Patient Hilfe annimmt, müssten zuerst „negative oft schwer erträgliche Erfahrungen, die sich in Therapie reaktivieren, durchgearbeitet werden“.
Warnung vor zu schnellem Handeln
Am Anfang gelte es erstmal Kontakt aufzunehmen, für Nahrung und für Ruhe und Schlaf zu sorgen, dafür, „dass das Floß nicht untergeht“. Happach warnte davor, zu schnell handeln zu wollen. Nicht immer einfach bei Rahmenbedingungen wie geringer Behandlungsmotivation, Gewaltanwendung und kurzer Behandlungszeiten, die Happach als „herausfordernd“ bezeichnete. Schwierige Patienten seien oft erstmal nicht erreichbar, wie versteinert. Das habe Sinn. Es gebe „gute Gründe dafür, dass sich jemand nicht vertrauensvoll an uns wenden kann“.
Mentalisieren vermittele so genanntes epistemisches Vertrauen (von Episteme, wissen, Erkenntnis), eine Art Grundvertrauen in eine andere Person und dem, was diese über etwas sagt. Eine Errungenschaft früher sicherer Beziehungserfahrungen, die bei schweren frühkindlichen (Bindungs-) Störungen gestört ist. Das führt zu so genannter epidemischer Wachsamkeit und Misstrauen, Versteinerung.
Viel Fortbildung und Supervision nötig
Wesentlich für das Mentalisierungskonzept sei ein gut geschultes Team, Verlässlichkeit, Präsenz. „Räume herstellen, in dem etwas begreifbar wird.“ Die Mentalisierungsfähigkeit des Teams müsse sich herausbilden und könne unter Stress und Angst einbrechen, so Happach. Es brauche viel Fortbildung und Supervision. Vor allem Großgruppensupervision der gesamten Klinik sei wichtig, um zu eruieren, was sich im Unbewussten des Teams niedergeschlagen hat. Geschult würden alle Berufsgruppen aller vier Stationen nebst Tagesklinik und PIA. Fortbildungen basieren vor allem auf Rollenspielen, in denen Haltung eingeübt werde. Wichtig seien „Inseln des Nachspürens“ im Alltag, die man sich auch bei Zeitdruck schaffen müsse. Anke Hinrichs
*(Der Fachbegriff Mentalisierung steht für die Fähigkeit, „das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren” (P. Fonagy, G. Gergely, E. Jurist, M. Target: Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Klett-Cotta, Stuttgart 2002.) Es bedeute gewissermaßen, heißt es anderer Stelle, am Verhalten „ablesen zu können, was in den Köpfen anderer vorgeht“. )
(Originaltext erschienen in: EPPENDORFER-Printausgabe 2/22. Er fasst einen Keynote-Vortrag zusammen, der im Rahmen des DGPPN-Kongresses 2020 online gehalten wurde.)