Digitalisierung und Technik verändern auch die Wahrnehmungswelten von Text und Bild. Und zwar rasant – und gefährlich, wie der sogenannte Ochsenzoller Nachmittag rund um die suggestive Macht von Bildern und die weite Verbreitung von Propaganda und Falschbehauptungen deutlich machte. Damit wurde in diesem Jahr ein Bogen von „Euthanasie“ und Nazizeit bis in die Gegenwart geschlagen.
Der Ochsenzoller Nachmittag ist Teil einer Gedenkveranstaltung, mit der alljährlich am 8. Mai an die über 4700 Hamburger mit Behinderung oder psychischer Erkrankung gedacht wird, die während des Nationalsozialismus getötet wurden. Veranstalter sind die Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll, die Evangelische Akademie der Nordkirche, die Evangelische Stiftung Alsterdorf sowie die Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll. Am Vormittag war in Alsterdorf u.a. mit einem Musical der über 120 Kinder gedacht worden, die in der „Kinderfachabteilung“ des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort getötet wurden.
Dr. Stephanie Wuensch, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll, erinnerte einleitend an Goebbels massenwirksam inszenierte „Totaler Krieg“-Rede von 1943 als furchtbares Beispiel für „Fake news“ und an einen Propagandafilm aus dem KZ-Theresienstadt, in dem die Insassen in Cafés sitzend gezeigt werden. Eine „Ermutigung, zu eigener Wahrhaftigkeit zu stehen“ gab sie den Teilnehmern auf den Gedankenweg, bevor Prof. Dr. Gerhard Paul, Historiker der Universität Flensburg, darüber sprach, wie manipulierte Bilder unsere Vorstellung von Geschichte bestimmen.
Paul begann beim Krimkrieg (1853 bis 1856), auch picknick-war genannt. Hintergrund: Damals war noch 20 Minuten Stillstand für eine Aufnahme nötig. Im Auftrag, keine Leichen abzubilden, entstand ein Foto, auf dem ein Soldat Kaffee einschenkt. Später kam dann die Retusche auf (sehr beliebt in der Sowjetzeit, so ließ Stalin Trotzki später einfach wegretuschieren). Weitere Beispiele: „Beautyretusche“ auf Wahlplakaten. Oder auch politisch motivierte: Ein Trittin-Foto, von einer Boulevardzeitung so beschnitten, dass ein Absperrseil wie ein Schlagstock aussieht. Weiteres Musterbeispiel aus der Geschichte: Leni Riefenstahls Film „Triumph des Willens“, der einen inszenierten Reichsparteitag 1935 zeigte – aber eben nicht den Gestank der Alkoholleichen abbildete, die in den Latrinen lagen. Heute macht digitale Bildbearbeitung Fälschungen leicht – als Grundlage für falsche Legenden und Legitimation für Kriege, wie Paul am Beispiel von Vietnam- und Golfkrieg deutlich machte.
Dr. Heinrich Wefing, Jurist und Co-Ressortleiter Politik bei der Zeit, äußerte sich beeindruckt und verstört von der Verunglimpfung der Medien als „Feinde des Volks“ durch Trump – aber auch von zunehmenden „Lügenpresse“-Angriffen in Deutschland. Im Netz werde oft ein Zerrbild der Wirklichkeit transportiert, oft über Verschwörungstheorien. Beispiel: Gerüchte über Flüchtlinge, die angeblich Zootiere essen. Besonders beunruhigend empfand er es, als ihn ein alter Schulfreund – ein weltgewandter Unternehmensberater – fragte: Wie das denn sei, „wenn die Merkel anruft und sagt, was ihr schreiben sollt?“ Dies sei eine Vertrauenskrise. Und dann Relotius, der Spiegel-Reportagenfälscher. Emporgekommen in einem Umfeld, das nach schön erzählten Geschichten mit klaren Helden und Opfern hungerte. Dagegen stünden Widersprüche und Grautöne der Wirklichkeit. Wefing sah hier ein systematisches Problem, das über den Einzelfall hinausgehe angesichts eines starken Trends zu Skandalisierung und Boulevardisierung. Mit Berichten mit einem „irritierenden Hang zu Gleichklang“ (Schulz, Wulff). Mit einer Berichterstattung im Rahmen der Flüchtlingskrise, die viel Vertrauen gekostet habe, etwa weil z.B. vier Tage bis zu Berichten über die Vorfälle in der Kölner Silvesternacht vergingen – aus Sorge, Rechten in die Hände zu spielen, was aber gerade durch Nichtberichte geschehe.
Vertrauensverlust treffe auf einen Selbstvertrauensverlust. Es gebe Auflagenrückgänge bei gleichzeitiger Explosion anderer (Nachrichten-) Kanäle und Fake News-Transporteure. Schnelligkeit entscheide. Die Schleusenwärterfunktion der Presse sei verloren gegangen. Doch es gebe auch Gegenbewegungen: Stiftungen, die Recherche finanzieren. Das Auflagenplus von New York Times und Washington Post. „Es gibt keinen Grund zum Verzweifeln, aber es bedarf Kreativität“, so der Journalist. Gefordert sei, zu Fehlern zu stehen und genauer über die Arbeit aufzuklären. „Meinungen gibt es wie Sand am Meer, Recherchen nur durch Journalismus“, schloss der Zeit-Vertreter.
Anke Hinrichs
(Der Beitrag ist der aktuellen Druckausgabe EPPENDORFER 4/19 entnommen, der einen Schwerpunkt zum Thema Digitalisierung enthält. Ein kostenloses Probeexemplar können Sie unter info@eppendorfer.de anfordern)