Zum 150-jährigen Bestehen der Psychiatrie in Ueckermünde hat die Medizinhistorikerin Dr. Kathleen Haack eine umfassende Studie zur Rolle der früheren Heil- und Pflegeanstalt im Nationalsozialismus vorgelegt. Die AMEOS Gruppe, zu der das Klinikum Ueckermünde heute gehört, initiierte das Buch „Vom ‚Anstaltsboom‘ zum NS-Krankenmord. Psychiatrie in Ueckermünde und Pommern im 19. und 20. Jahrhundert“ und ließ historische Patientenakten sichten.
In der Landesheilanstalt Ueckermünde wurden Kinder und Jugendliche ermordet. Wie Erika Kuckuck. Ihr trauriges und kurzes Leben, rekonstruiert aus ihrer Krankenakte, zeigt, wie wenig es brauchte, um als lebensunwert eingestuft und getötet zu werden. Erika, geboren 1929, wurde von ihren Eltern abgelehnt und frühzeitig in privaten Pflegestellen und staatlichen Einrichtungen untergebracht. Bei Intelligenztests fielen immer wieder ihre geringe Konzentrationsfähigkeit und erhöhte Ablenkbarkeit auf, was sich auf ihre schulischen Leistungen auswirkte. Die deutliche Symptomatik einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wurde durch die ungünstigen sozialen Einflüsse noch verstärkt, Hilfe bekam sie nicht, im Gegenteil.
Das traurige und kurze Leben der Erika Kuckuck
Wie sehr das Mädchen seelisch zerstört wurde, machen die Akteneinträge auch deutlich: Erika wird bei einer 6-wöchigen Untersuchung in der Landesanstalt Potsdam im Alter von sechs Jahren als sehr freundlich beschrieben. „In ihrer Stimmungslage ist sie ansteckend heiter und unbeschwert“, heißt es und die Fröhlichkeit übertrage sich auch auf die anderen Kinder. Ganz ähnlich seien die Einschätzungen der folgenden Jahre, so Kathleen Haack. Nach Aufhebung der Fürsorgeerziehung kommt sie in verschiedene Familienpflegestellen, aber keine will sie langfristig aufnehmen, weil sie „erhebliche Erziehungsschwierigkeiten“ bereite. Aus einer brutalen Familie, in der sie geschlagen und der Hund auf sie gehetzt wird, kommt sie in die Landesheilanstalt Brandenburg-Görden. Auch hier fällt sie in der Kindergruppe durch ihr fröhliches Wesen auf, meist lacht sie und tollt auf der Abteilung herum. Sie freut sich, wenn sie einfache Arbeiten wie Abtrocknen in der Küche machen darf, beim Unterricht in der angegliederten Schule zeigt sie aber keine nennenswerten Fortschritte. Sie fühlt sich dort unwohl, versucht immer wieder zu schwänzen.
1944 wird ihr Tod aufgrund einer „Penumonie” dokumentiert
Im Januar 1939 wird Erika wieder aus ihrem Umfeld gerissen und nach Pommern verlegt. In Ueckermünde wird sie nun plötzlich als ungezogen und wenig zugänglich beschrieben. Wahrscheinlich erfolgte um 1943 die Meldung an den „Reichsausschuss“ – ihr Todesurteil. Am 27. Februar 1944 wird ihr Tod aufgrund einer „Pneumonie“ dokumentiert.
Tausende Patientenakten ausgewertet
Kathleen Haack schildert ausgehend von tausenden Patientenakten viele solcher Schicksale in ihrer Studie. Sie zeigt, wie die humane Idee, psychisch Kranke in eine medizinische Umgebung einzubetten, alsbald in Krisenzeiten an ihre Grenzen stieß, Maßnahmen zur Aussonderung von „Minderleistern“ zunehmend in den Fokus gerieten. Pommern nahm, was den menschenverachtenden Umgang mit psychisch Kranken und behinderten Menschen anbelangt, eine Vorreiterrolle im Nazireich ein. Auch das arbeitet Haack heraus. Sie habe die bisher nur als Puzzleteile existierenden Spuren zu einem Gesamtbild der Verstrickung der Ueckermünder Psychiatrie in die NS-Verbrechen zusammengefügt, schreiben Stephan Freitag und Anja Baum im Vorwort der Regionalgeschäftsführung AMEOS Nord. „Dass darin auch die Einzelschicksale vieler Patientinnen und Patienten eingang gefunden haben, macht die Darstellung besonders wertvoll.“ Nicht minder wichtig sei es für sie gewesen, dass Kathleen Haack auch auf die „problematischen personellen und methodischen Kontinuitäten hinweist, die die Arbeit in der Ueckermünder Psychiatrie bis in die Mitte der fünfziger Jahre prägten“. Michael Freitag
Kathleen Haack: „Vom ,Anstaltsboom’ zum NS-Krankenmord: Psychiatrie in Ueckermünde und Pommern im 19. und 20. Jahrhundert“ (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern), Verlag Böhlau, Köln 2025, 440 Seiten mit über 150 Abbildungen.