Der Germanist, Erziehungswissenschaftler und Psychiatrie-Dozent Dr. Jens Clausen (Freiburg/Münster) hat sich für sein Buch „Das Selbst und die Fremde” auf eine Reise tief in die touristische Seele begeben und ein weitgehend unerforschtes Terrain ausgelotet.
Kann man auf Reisen „verrückt” werden? Dieser Frage ist Dr. Jens Clausen literarpsychiatrisch nachgegangen. Sein Befund: Man kann. Zum Beispiel Henry Beyle. Zwar nicht sehr originell, aber sehr klassisch. Der 34-jährige französische Leutnant, der später als Stendhal literarische Karriere machen sollte, besucht am 22. Januar 1817 die florentinische Basilica Santa Croce. Die Flut an Eindrücken durch die Kunstwerke wirft den Leutnant im wahrsten Sinn des Wortes um. „Ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen“, beschreibt er später seinen „Nervenanfall“ – ein Anfall, der als „Stendhal-Syndrom“ längst Eingang in psychiatrische Kategorien gefunden hat.
Bis heute geraten sensible Gemüter angesichts florentinischer Kunstballung bedenklich ins Wanken, bis hin zu Halluzinationen und Psychose. Vorwiegend lässt das Stendhal-Syndrom Alleinreisende zwischen 26 und 40 Jahren dahinsinken, fand Graziella Magherini heraus, Chefin der örtlichen Krankenhauspsychiatrie. „Allerdings trifft das Syndrom mitunter auch einzelne Mitglieder von Kultur-Reisegruppen“, sagt Dr. Clausen. Und das nicht nur in Florenz, sondern auch an anderen Orten europäischer Hochkultur.
Vom Stendhal- bis zum Jerusalem-Syndrom
Wie Florenz bemüht sich auch die Stadt Jerusalem um einen nach ihr benannten psychiatrischen Syndrom-Rang. Bringen den Reisenden religiös motivierte Eindrücke um Sinn und Verstand, spricht man vom Jerusalem-Syndrom. Rund 200 Reisende sollen jährlich durch die konzentrierte göttliche Anmutung der Stadt derart aus dem Gleichgewicht geraten, dass sie durch Jerusalem irren und in die Klinik „Kfar Shaul“ eingewiesen werden, berichtet Dr. Clausen.
In seiner als Buch inzwischen in der 4. Auflage erschienenen Dissertation „Das Selbst und die Fremde“ nimmt Clausen literarische Texte von Reisenden unter die Lupe. Imre Kertez überfallen Beklemmungen, Angst und Panik in Leipzig, Rolf Dieter Brinkmann dekompensiert in Rom und fällt dissoziierenden Spannungen anheim. Am Beispiel Max Dauthendey und Albert Camus beschreibt Clausen die depressiven Symptome von Trennungsverlust und Zerrissenheit. An August Strindberg arbeitet Clausen exemplarisch die Phänomene von Wahn und Psychose auf Reisen heraus.
In Exkursen widmet sich Clausen den Reiseerfahrungen von Friedrich Hölderlin, Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke – und natürlich Goethe, gilt dieser doch als großer literarischer Reisender. Immerhin war er zusammengerechnet 14 Lebensjahre lang unterwegs und hat über 40.000 Kilometer zurückgelegt. Goethe hat seine Touren schadlos überstanden, beugte er doch systematisch vor, um nicht „entrückt oder wohl gar verrückt“ zu werden.
„Viele Psychoseerfahrene berichteten, dass ihre erste Krise in der Fremde ausgelöst worden war.“
Ein von ihm selbst moderiertes Psychose-Seminar in Münster hatte Clausen den Anstoß zu dieser Studie gegeben. „Der erste Abend stand unter dem Thema ,Vom Verlassen sicherer Häfen‘“, erinnert er sich an die Veranstaltung, die auf ungewöhnlich starkes Interesse stieß. „Viele Psychoseerfahrene berichteten, dass ihre erste Krise in der Fremde ausgelöst worden war.“ Clausen begann in der Literatur zu recherchieren.
Ein Ergebnis seiner Forschung: Nicht nur psychisch Auffällige sind gefährdet. Auch „Gesunde“ können durch die Erfahrung der Fremde in Panik und Angst geraten. „Das Unvertraute mobilisiert Befremdliches innerhalb des eigenen Selbst, sei es als bereichernde Begegnung mit ungekannten Regionen der Seele, sei es als gefährdende, gar abzuwehrende Ahnung, dass gleich neben unserem So-Sein auch ein Anders-Sein wohnt“, so Clausen.
Genauso wichtig wie die Tour ist deren Vorgeschichte: „Man muss immer berücksichtigen, aus welcher Situation jemand aufgebrochen ist“, so Clausen gegenüber dem „Eppendorfer”. Wolle man beispielsweise einer bedrückenden Situation entfliehen, gehe man ein höheres Risiko ein, von Eindrücken überschwemmt zu werden. Auch bindungstheoretische Aspekte spielen eine Rolle: „Wieviel Halt braucht man? Wieviel Neues kann man sich zumuten?“
Um in Panik zu geraten, muss man nicht unbedingt ans Ende der Welt reisen, wie Imre Kertez’ Irrwege durch Leipzig zeigen. Gleichwohl steigt gemeinhin das Risiko mit der geografischen und kulturellen Distanz.
In Fernost könne die Fremdheit gleich im doppelten Sinn zuschlagen: Durch den völlig andersartigen mentalen Kontext und – ganz handfest – durch die dünne Höhenluft beispielsweise in den nepalesischen Bergen. Das muss jedoch nicht gleich in die Zerrüttung führen: Rucksack- und Trekkingtouristen berichten, wie sie an solchen Grenzerlebnissen innerlich gewachsen sind.
Entscheidend für das psychische Wohlbefinden des Reisenden ist vor allem auch, wie das Fremde auf ihn reagiert: „Wenn er keine ,Anker‘ findet, wird er schnell auf sich selbst zurückgeworfen“, so Clausen. Dann beginne das Unbewusste zu arbeiten. Es gilt also, sich das Fremde vertraut zu machen. Schon das Café um die Ecke oder die Bekanntschaft mit anderen Reisenden biete seelische Verankerung.
Auch das Schreiben, so Clausen, sei ein probates Mittel, um seelisch gesund zu bleiben und die Eindrücke zu verarbeiten – unabhängig von der Form des Reisetagebuchs (chronologisch-stichwortartig, selbstbetrachtend oder literarisch ambitioniert). „Allerdings darf man sich nicht allzu sehr darin vertiefen, sonst kann es kippen“, warnt er.
Trotz aller Verunsicherungen, denen das Selbst in der Fremde ausgesetzt ist, sieht sich Clausen nicht als Reise-Warner. Tröstlicher Schluss seiner Studie: Das Reisen schaffe gerade durch die existenzielle Verunsicherung auch eine lustvolle und bereichernde Entfremdung zu sich selbst, eine „erlesene Distanz“, die nötig sei, „um die Möglichkeitsräume des Seins zu imaginieren und den eigenen Weg darin zu reflektieren“.
Auch wenn dieser in die florentinische Basilica Santa Croce führt.
Michael Göttsche
Jens Jürgen Clausen: Das Selbst und die Fremde – Über psychische Grenzerfahrungen auf Reisen”, Psychiatrie-Verlag, 4. Auflage 2012, 340 Seiten, ISBN: 978-3-88414-473-2, 20 Euro.