Menschen mit Behinderungen bzw. mit Pflegebedarf müssen sich trotz der Lockerungen weiter an strenge Auflagen halten – was bedeutet das für die Teilhabe? Der EPPENDORFER hörte sich um …
Sehen ja, anfassen nein: In vielen Einrichtungen, in denen Menschen mit Pflegebedarf oder mit Behinderungen leben, müssen Besucherinnen und Besucher hinter einer Plexiglas Platz nehmen, wenn sie ihre Angehörigen besuchen. In anderen Häusern finden Treffen am Gartenzaun statt. Schwierig ist das besonders für Menschen, die kognitiv eingeschränkt sind: „Da stehen auf einmal Pflegekräfte mit Maske am Bett, die Menschen mit kognitiven Einschränkungen nicht erkennen. Angehörige kommen nicht mehr, der ganze vertraute Rhythmus ändert sich“, sagt Swen Staack, Leiter des Kompetenzzentrums Demenz in Schleswig-Holstein.
Unter den strengen Regeln leiden auch die Angehörigen. „Am Anfang habe ich die Verordnungen verteidigt“, sagt Fritz Bremer, ehemaliger Geschäftsführer der Brücke Neumünster und Vater einer Tochter mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Sie lebt in einer Wohngruppe, in der sie ständige Assistenz erhält. Mit ihren Eltern telefonieren oder gar skypen kann sie nicht. Warum sie ihren Vater nur durch eine Scheibe sehen darf, ist ihr schwer zu vermitteln.
„Da gehen grade Seelen kaputt“, sagt Birte Pauls, Landtagsabgeordnete der SPD. Während der Wochen des harten Lockdowns sei vieles zu ertragen gewesen, aber je mehr der Rest der Gesellschaft zur Normalität zurückkehrt, desto mehr fällt auf, was Menschen, die als Risikogruppen eingestuft sind, nicht dürfen.
Im Büro des Schleswig-Holsteinischen Behindertenbeauftragten werden solche „exklusiven Tendenzen“ kritisch beobachtet. Wobei das Bild sehr unterschiedlich sei, berichtet stellvertretende Beauftragte Dirk Mitzloff. „Dabei habe ich am Anfang gesagt: Ihr seid ja gar nicht gemeint, schließlich gibt es seit Jahresbeginn in Schleswig-Holstein gar keine vollstationäre Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe mehr“, sagt Mitzloff. Mit der dritten Phase des Bundesteilhabegesetzes wurden die „Heime“ zu „besonderen Wohnformen“. Den dort lebenden Menschen hilft die Umbenennung nicht. Zwar gebe es Einrichtungen, die sehr schnell wieder mehr Freiheiten erlaubten, etwa Einkaufen. Andere dagegen warteten lange mit den kleinsten Lockerungen.
Kerrin Stumpf, Vorsitzende des Vereins „Leben mit Behinderung“ in Hamburg, hat die Wochen des strengen Kontaktverbots während des Lockdowns durchaus auch als entspannt erlebt: „In den Wohngruppen gab es auf einmal mehr Personal, weil Leute von den Werkstätten in die Gruppen gewechselt sind. Die Gruppe konnte gemeinsam wegfahren und hinterher gemeinsam in Quarantäne gehen. Und die Eltern, die bisher immer dachten, dass es ohne sie nicht geht, erlebten, dass es eben doch ohne sie geht.“ Und diese Erfahrung sei wichtig und durchaus beruhigend, sagt Stumpf: „Gerade für die alten Eltern, von denen wir einige im Verein haben und die sich Sorgen machen, was aus ihrem Kind wird, wenn sie selbst nicht mehr leben.“
Doch auf diese „Idylle“ während des Lockdowns folge nun die Phase der Ungeduld: „Man will sich wieder sehen, aber es gelten die Einschränkungen mit Plexiglasscheiben oder Gartenzaun.“ Auch in anderen Bereichen gelten weiter Sonderregelungen, etwa in der Schule: Während andere Kinder wieder zum Unterricht gehen, werde das bei Kindern mit Behinderung in Frage gestellt. „Allein die Sonderbehandlung ist empörend“, sagt Stumpf. „Es ist anstrengend für die Eltern, dass sie immer wieder Druck machen müssen.“
Gleichzeitig habe die Corona-Zeit aber auch dafür gesorgt, dass Lehrkräfte sich anders und individueller mit den Kindern befasst haben: „Teils hat das super geklappt, teils hat es gezeigt, was nicht klappt“ – beides könne helfen. „Wir müssen weiterdiskutieren, wie individuell noch besser differenziert werden kann“, sagt Stumpf.
Im Sozialausschuss des Kieler Landtags wurde beraten, wie mit der Lage umzugehen sei. Inzwischen gelten gelockerte Regeln für einige Einrichtungen. So haben die Werkstätten wieder geöffnet – sehr zur Freude der Betroffenen, berichtet Kerstin Scheinert, die selbst in einer Werkstatt für Menschen mit psychischen Behinderung arbeitet und Sprecherin des Landes-Werkstattrates ist. „Wir waren zwei Monate raus, die Rückkehr zur Arbeit fühlte sich erstmal komisch an.“ Inzwischen liefe wieder normal. Die meisten ihrer Arbeitskollegen seien körperlich fit, also nicht unbedingt Angehörige von Risikogruppen, berichtet Scheinert. Diejenigen, die in Wohngruppen lebten, seien teilweise noch nicht wieder zurück bei der Arbeit. „Letztlich ist es nicht schlecht, dass verschiedene Gruppen je nach ihrem Risiko verschieden behandelt werden“, sagt die Werkstatträtin. Ihr Eindruck sei, dass die Einrichtungen sich in der Regel Mühe gäben.
Swen Staack und Dirk Mitzloff sehen die Einrichtungen in der Pflicht, für Betreute so schnell wie möglich die Einschränkungen zu lockern. „Die Menschen, die nicht gefährdet sind oder gefährden, sollen die gleichen – eingeschränkten – Rechte wahrnehmen können wie alle anderen“, sagt Mitzloff. „Sonst sehe ich tatsächlich diskriminierende Formen der Rechtsanwendung.“ Esther Geißlinger
(Weiterer, ausführlicherer Bericht zum Thema in der nächsten Printausgabe, die am 6. Juli gedruckt wird.)