Teufelskreis
Neuroenhancement

Beispiele von Medikamenten, die auch für Neuroenhancement missbraucht werden. Foto: privat

Marvin ist 27. Das Abitur absolvierte er mit einem Notendurchschnitt von 2,1. Ein guter Notendurchschnitt. Doch einer, der hart erarbeitet war und teuer bezahlt wurde. Marvin hatte Prüfungsangst, Versagensängste. Um diese Ängste in den Griff zu bekommen, nahm Marvin Aufputschmittel, um wach zu bleiben und besser lernen zu können. Vor der Prüfung nahm er Beruhigungsmittel, einerseits um die Aufregung in den Griff zu bekommen und besser zu schlafen, andererseits, um die Wirkung der Aufputschmittel wieder zu dämpfen. Auch während des Studiums betrieb Marvin Neuroenhancement. Nach einem lebensbedrohlichen Zusammenbruch macht er heute eine Therapie, um seine Sucht in den Griff zu bekommen.

„Marvin ist kein Einzelfall“, sagt Dr. Daniel Ehmke. „Zahlreiche Menschen fühlen sich immer mehr unter Druck, wollen dem gesellschaftlichen und beruflichen Leistungsbild entsprechen. Das führt dazu, dass immer mehr Menschen ‚Doping fürs Gehirn‘ betreiben.“ Dr. Daniel Ehmke ist Chefarzt der  AMEOS Klinika Neustadt und Eutin. Als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Spezialist für Suchtmedizinische Grundversorgung und Spezielle Schmerztherapie verfügt er über vielfältige Erfahrungen, unter anderem mit Suchtpatienten und auch Neuroenhancement.

Psychoaktive Substanzen sollen Konzentration und Wachheit steigern

„Psychoaktive Substanzen sollen die Aktivität der Nervenzellen im Gehirn erhöhen und so die kognitive Leistungsfähigkeit bei entsprechender medizinischer Indikation verbessern“, erläutert Ehmke. Also etwa Konzentration, Merkfähigkeit und Wachheit steigern – selbst und gerade dann, wenn man sich sehr erschöpft und ausgelaugt fühlt. Zu den Substanzen, die hierfür gerne konsumiert werden, gehören Ritalin (Methylphenidat) sowie andere verschreibungspflichtige Wirkstoffe, die beispielsweise zur Behandlung von Personen mit Demenzerkrankungen, Narkolepsie, schweren psychischen Erkrankungen oder ADHS verwendet werden.

Marvin selber war sich nicht bewusst, in welchem Teufelskreis er sich befand. Er nahm Ritalin, um leistungsfähiger zu sein. Und später Benzodiazepine, um runterzukommen. „Irgendwann konnte ich nicht mehr schlafen, hatte Herzrasen, Schweißausbrüche und brauchte immer mehr von beiden Substanzen“, erzählt der junge Mann. Anvertraut hat er sich niemandem. „Ich habe mich immer mehr von meinen Freunden zurückgezogen. An Partys habe ich gar nicht teilgenommen, weil ich keinen Alkohol mehr vertragen habe.“ 

Eines Tages brach er zusammen und wurde ins Krankenhaus eingeliefert

Eines Tages brach Marvin zusammen und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Sein Leben hing am seidenen Faden. „Erst da wurden mir die Augen geöffnet, dass ich mein Leben aufs Spiel gesetzt habe.“ Marvin war abhängig und kam in die psychiatrische Klinik. Dort machte er einen Entzug. „Das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe“, sagt der 27-Jährige. „Das wünscht man seinem ärgsten Feind nicht, auch wenn ich weiß, dass es keinen anderen Weg gab.“

Der Weg zurück ins Leben sei damit noch nicht getan, betont Dr. Ehmke. „Es ist jedem Betroffenen zu empfehlen, eine Therapie zu machen.“ Zum einen müssen die Patienten schauen, dass sie – gemeinsam mit Fachleuten – ein Konzept entwickeln, wie sie sich zukünftig unter Druck verhalten. Und: „Vor allem sollten die Betroffenen Ursachenforschung unter professioneller Hilfe betreiben, um zu verstehen, warum sie leistungsfähiger sein wollen als ihnen guttut.“ Die Patienten müssen lernen, selber wieder Verantwortung zu übernehmen und ihr Leben ohne leistungsfördernde Substanzen gestalten.

Leider inzwischen „nahezu gesellschaftsfähig”

Leider, so Ehmke, sei Neuroenhancement nahezu gesellschaftsfähig. Zahlreiche Berufstätige zwischen 20 und 45 Jahren nutzen das „Doping fürs Gehirn“, um ihre Leistung zu steigern. Männer häufiger als Frauen. Es gehe ja nicht nur um die Einnahme von verschreibungspflichtigen oder verbotenen Substanzen. Die Einnahme von nicht verschreibungspflichtigen OTC („over the counter“)-Arzneimitteln wird gelegentlich als „Soft-Enhancement“ bezeichnet und ist für viele Menschen Alltag. „Das umfasst auch die Einnahme von sogenannten naturheilkundlichen Mitteln, extremen Kaffeekonsum oder das übermäßige Trinken bestimmter als leistungssteigernd angepriesener Getränke.“ Irgendwann ist der Gewöhnungseffekt da und Körper und Gehirn brauchen eine gewisse Stimulanz, um zu funktionieren. Dabei sei gar nicht nachgewiesen, dass der gewünschte Effekt tatsächlich eintritt.

„Die Konzentration ist nur kurzzeitig intensiver. Danach kommt wieder der normale Level. Das bedeutet, dass die Neuroenhancer gesteigert werden. Die Folgen kann man sich ausmalen. Irgendwann geht nichts mehr. Wie bei Marvin.“ Ehmke weiter: „Ein gewisser Leistungsdruck ist normal. Man muss lernen, den auszuhalten oder konsequent sein und sich eingestehen, dass möglicherweise ein Studium nicht das Richtige für einen ist“, sagt der Facharzt. Ziele, die man erreichen möchte, sollten auch realisierbar sein mit den Ressourcen, die der Körper und das Gehirn zur Verfügung stellen.

Marvin hat noch einen langen Weg vor sich, bevor er wieder ein normales Leben führen kann. Das Studium hat er an den Nagel gehängt. Nach dem stationären Entzug macht er jetzt eine stationäre Psychotherapie. „Es gibt Freunde, die zu mir halten, die mich unterstützen, andere haben den Kontakt zu dem ‚Loser‘ abgebrochen“, sagt Marvin. Das störe ihn aber nicht. „Wichtig sind die Menschen, die mich so akzeptieren wie ich bin. Mit meinen Ecken und Kanten und meiner Sucht.“  

Christiane Harthun-Kollbaum