Suizid in der Klinik

Auch in der Klinik kann es zu Verzweiflung kommen. Foto: pixabay

Für Angehörige und Außenstehende besonders schwer zu fassen, für Mitarbeitende der Psychiatrie hoch belastend: Allein im Setting der Erwachsenenpsychiatrie sterben in Deutschland jährlich rund 700 Menschen durch Suizid. Diese Zahl nennt jedenfalls das Felber-Institut für Suizidprävention und interdisziplinäre Forschung im Gesundheitswesen. Tatsächlich scheinen die Angaben zur Häufigkeit sehr unterschiedlich (s. unten). Der Umgang mit Suizidalität ist damit wesentlicher Bestandteil der Tätigkeit aller Berufsgruppen in der Psychiatrie. Vor diesem Hintergrund war der Vortrag von Prof. Dr. med. Thomas Reisch, Chefarzt der Klinik für Depression und Angst und Ärztlicher Direktor am PZM Psychiatriezentrum Münsingen AG Schweiz, an der Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll im Rahmen eines Symposiums zum Thema „Akutpsychiatrie und Psychosen” für Klinikmitarbeiter von besonderem Interesse. Reisch zeigte, wie schwierig Suizidprophylaxe ist.

Die Golden Gate Bridge in San Francisco ist ein Hot Spot des Suizids: Seit dem Bau der Brücke, die 1937 eingeweiht wurde, haben sich über 1700 Menschen mit einem Sprung in die Bucht das Leben genommen. Durch Patrouillen auf der Brücke können die meisten Lebensmüden zurückgehalten werden, aber eben nicht alle. Derzeit wird ein Netz gespannt, um noch mehr Todessprünge zu verhindern. Auch per Film wurde die Golden Gate Bridge überwacht, und diese Aufnahmen gaben Forschern Hinweise über den Ablauf eines Suizids, den sie in sechs Phasen einteilen.

In der Präsuizidalen Phase gehe es dem Depressiven schon nicht gut, so Thomas Reisch. Die darauf folgende Mental Pain Phase sei für ihn aber kaum auszuhalten. Der seelische Schmerz muss weg, koste es, was es wolle. In der Suizidhandlungsphase ist der Suizidale kaum noch zu erkennen. „Die sind alle entspannt, weil sie ihre Reise schon gebucht haben“, so Reisch. Sie seien in einer Autopilotphase, Smalltalk-fähig und treibe die Hoffnung, dass der Schmerz bald nachlasse. In der finalen Ambivalenzphase findet noch einmal ein Innehalten statt. Auf der Golden Gate Bridge konnte man die Suizidalen noch rauf und runter gehen sehen, bevor es zur finalen Handlungsphase, hier den Sprung, kam. Die Erkenntnis, dass es noch während der Suizidhandlung eine weitere Phase gibt, ist den Schilderungen der Überlebenden zu verdanken, denn 0,2 Prozent überstanden den Sprung von der Brücke. „Sie haben den Suizid bereits beim Sprung bereut und als einen schrecklichen Fehler angesehen“, so Reisch. Er zeigte ein Interview mit Kevin Hines, der dieses „Aufwachen“ beim Todessprung schilderte.

Die verhinderte Zugehörigkeit, das Gefühl, sich von anderen isoliert zu erleben, und die wahrgenommene Belastung für sich und andere sind nach der Interpersonell-psychologischen Theorie von Thomas Joiner (2005) die beiden Hauptfaktoren für einen Suizidwunsch. Komme zu diesem Suizidwunsch noch die erworbene Fähigkeit, sich selbst zu schädigen, hinzu (z.B. Selbstverletzendes Verhalten), entstehe eine Hochrisikosituation für einen Suizid. Bei 66,6 Prozent betrage die Vorbereitungszeit für den Suizid weniger als 12 Stunden, verdeutlichte Reisch. Bei 19,9 Prozent liege sie zwischen 12 Stunden und einer Woche, bei 13,5 Prozent bei über einer Woche. 

„Nur 37 Prozent wegen Suizidalität eingeliefert “

„Nur 37 Prozent der stationären Patienten, welche sich suizidierten, waren wegen Suizidalität eingeliefert worden“, verdeutlichte Reisch die Schwierigkeit des Erkennens einer Gefährdung. „Und 78 Prozent der stationären Patienten, welche sich suizidierten, verneinten die Suizidalität beim letzten Gespräch.“ Zwei Drittel der Suizide fänden außerhalb der Klinik statt. Immerhin: Die Suizidraten in deutschen Psychiatrischen Kliniken gingen immer weiter runter. Am Wochenende gibt es 12 bis 15 Prozent weniger Suizide. „Dann sind Familien eher zusammen, sie sind nicht allein.“ Weniger Suizide seien deshalb auch in der Adventszeit zu verzeichnen.

Auf offenen Stationen gebe es weniger Suizidversuche, so Reisch, dafür mehr Entweichungen. Und eine häufigere Rückkehr nach dem Entweichen. Für die Suizidprävention seien Männer nicht zugänglich, bedauerte Reisch. Warum? Eine Studie habe hier ein typisches Muster ergeben: „Wenn die Hoffnung weg ist, darf dies niemand wissen, Schwäche ist nicht erlaubt. Der Suizidversuch soll einem selbst beweisen, dass man mutig ist.“ Frauen suchten eher Hilfe, daher gebe es bei ihnen auch mehr Versuche als bei Männern, aber weniger vollendete Suizide. 

Die Einschätzung einer Suizidgefahr erfordere eine therapeutische Beziehung und Schulung des Personals, konstatierte Reisch. Besonders sensible Phasen seien die Aufnahme und die Entlassung. Wie beschrieben sei die Suizideinschätzung aber insbesondere bei Männern schwierig. „Der beste Prädiktor für Suizidalität ist immer noch ein Suizidversuch“, so Reisch. Weitere seien der kürzliche Verlust einer Beziehung, Hoffnungslosigkeit, ausgeprägte/anhaltende Depressivität und ein konkreter Suizidplan. Angehörige würden Warnzeichen von Suizidalität wesentlich besser erkennen als Therapeuten (90,5 zu 44,6 Prozent). Sie würden auch häufiger eine Kontaktaufnahme initiieren (29,4 zu 5,9 Prozent).

Bauliche Suizidprävention (Sicherung gegen die Methoden Erhängen und Sprung) wird in Kliniken bereits umgesetzt. Ist in der Umgebung eine Bahntrasse oder eine Brücke, gibt es ein Problem. An manchen Hotspots bei Kliniken betreibe man bereits Umgebungssicherung, etwa durch Lärmschutzwände, eine Meldekette, Patrouillen am Bahnhof. Komme es zu einem Kliniksuizid, müssten sofort Maßnahmen ergriffen werden, so Reisch. „Oft kommt es zeitnah zu Folgesuiziden. Es sollten sofort Teambesprechungen folgen und auch die Patienten aufgeklärt werden.“

                    Michael Freitag

Suizide im Umfeld klinischer Behandlung waren auch Thema eines Symposiums auf dem jüngsten DGPPN-Kongress („Architektonische Ansätze zur suizidpräventiven Schaffung therapeutischer Umwelten im psychiatrischen Kontext“). Hier wurde auf ein noch bis Ende Oktober 2020 laufendes und vom Bundesgesundheitsministerium finanziertes Forschungsprojekt des Werner-Felber-Instituts für Suizidprävention und interdisziplinäre Forschung im Gesundheitswesen Dresden (https://www.felberinstitut.de) hingewiesen: Zwecks Evaluierung von Kliniksuiziden werden Krankenhäuser aufgerufen, auf freiwilliger Basis die Begleitumstände von Kliniksuiziden per Online-Fragebogen mitzuteilen. Die Daten sollen helfen, Risikofaktoren besser einzuschätzen und Alternativen  zu entwickeln. Ziel sei ein Zertifizierungsverfahren. 

Auch in dem Symposium wurden diverse suizidpräventive Maßnahmen erwähnt. Die beste Prävention bestehe in der Verringerung der Methodenverfügbarkeit und Verhinderung von Sprüngen. Ferner wurden auch diverse milieubedingte Faktoren benannt. Problematisch insbesondere Stressfaktoren: Angst, aber auch Reize wie vor allem Lärm, der in Kliniken zunehme. Ungünstig auch Fixierbetten auf dem Gang, empfohlen wurde, diese Betten so zu drehen, dass der Patient aus dem Fenster guckt. Beruhigend und stressreduzierend wirkten Naturmotive. Besonders interessant scheint die Wirkung von Blaulicht. Zumindest in Japan. Nachdem Tokio 14 seiner Bahnhöfe – diejenigen mit den höchsten Suiziddaten – mit blauem Licht ausgestattet hatte, soll die Suizidrate dort sehr stark gesunken sein.  Aber: In Belgien habe Blaulicht keinen derartigen Effekt gehabt, so Dr. med. Thomas Reisch in Berlin. „Wir wissen nicht, ob es auch in unserer Kultur wirkt.“     (hin)

(Originalveröffentlichung im Eppendorfer 2/2019)

Zur Häufigkeit 

Die Angaben zur Häufigkeit von Suiziden in psychiatrischen Kliniken sind sehr unterschiedlich. In einem internationalen Review werde die Suizidhäufigkeit in stationären Behandlungen zwischen 0,06 und 5,66 pro 1.000 Aufnahmen angegeben, heißt es in einem aktuellen Beitrag in der Fachzeitschrift Neurotransmitter („Schulung zur Svizidprävention in einer psychiatrischen Klinik/Ausgabe 6/2019). Die Autoren würden davon ausgehen, dass diese unterschiedlichen Suizidhäufigkeiten in psychiatrischen Kliniken „wohl auf die jeweils zur Verfügung stehende Qualität der Hilfen oder auf soziale Faktoren zurückzuführen sind”.     (hin)