„Sozialpsychiatrie 
auf dem Kriegspfad”

Verstand das Treffen eher als Weckruf denn als Abgesang: DGSP-Landesvorsitzender René Skischally. Foto: Geißlinger

In den Einrichtungen fehlt Personal, Verhandlungen mit Kostenträgern laufen zäh, eine inhaltlich-politische Auseinandersetzung findet kaum statt: „Wir wollen etwas verändern, aber die reden nicht mal mit uns“, klagte ein Leiter einer sozial-psychiatrischen Einrichtung am Rande des Fachtags des Landesverbandes der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP). Das Treffen in Neumünster stand unter dem dramatisch klingenden Titel „Das Ende der sozialen Psychiatrie in Schleswig-Holstein“. Doch der Landesvorsitzende René Skischally verstand das Treffen mit rund 80 Teilnehmenden eher als Weckruf denn als Abgesang: „Wir wollen raus aus dem Gefühl der Ohnmacht, hin zur Umsetzung unserer Visionen.“

NEUMÜNSTER. Wie Visionen Wirklichkeit werden, schilderte Martin Zinkler. Der Psychiater und Psychotherapeut ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Bremen-Ost, zuvor hat er  die Reform der Klinik in Heidenheim mitgestaltet. Er steht für eine Psychiatrie mit „offenen Türen und offener Haltung“, die sich am Willen der Psychiatrieerfahrenen orientiert – wie es die UN-Behindertenrechtskonvention und inzwischen auch die Weltgesundheitsorganisation WHO fordern. Nur 20 Kliniken deutschlandweit setzen das System der offenen Türen um, mit sinkender Tendenz, bedauerte Zinkler.

Bremen: „Therapieversammlungen” statt Visiten

Auch der Klinikalltag sieht bei ihm anders aus: „Schon mal einen Patienten gesehen, der Visiten mag?“, fragte Zinkler. So gibt es anstelle des morgendlichen „Weißkittel-Aufmarsches“ am Bett „Therapieversammlungen“, an denen Angehörige, Betreuer und andere Vertrauenspersonen der Patienten teilnehmen dürfen. Es gelte, Macht abzugeben: „Wir reden von Compliance, wenn der Patient tut, was der Arzt will“, so Zinkler. „Warum nennen wir es nicht einfach Meinungsverschiedenheit, wenn er etwas anderes will?“ 

Alle Bereiche, auch Polizei und Forensik, müssten den Willen der Betroffenen respektieren und psychisch Kranke nicht anders behandeln als Menschen ohne psychiatrische Diagnose. In letzter Konsequenz, darüber  wurde in einer Arbeitsgruppe diskutiert, bedeutet das, dass ein Mensch sich umbringen oder eine lebensrettende Behandlung verweigern darf, ohne dass Betreuungskräfte eingreifen. Ein Gedanke, den Mitglieder der Arbeitsgruppe schwierig fanden, aber „unser heutiges System ist nicht Menschenrechts-konform“, so Zinkler. 

Klaus Obert: „Es gibt die Hoffnung, dass Menschen die Gesellschaft ändern“

Dass die Psychiatrie in ständigem Fluss ist, berichtete Klaus Obert, Leiter des Gemeindepsychiatrischen Verbunds im Caritasverband für Stuttgart und Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde. Das Ziel einer lebensweltlichen Gemeindepsychiatrie sei nicht, dass sich der Mensch ändere, um in das System zu passen, sondern „es gibt die Hoffnung, dass Menschen die Gesellschaft ändern“. Er machte aber auch klar, dass Sozialpsychiatrie immer „auf dem Kriegspfad gegen die Logik der Institutionen“ sei: „Ressourcen müssen erkämpft werden.“ Ein Punkt, den regionale gemeindepsychiatrische Verbünde durchsetzen sollten, sei die verpflichtende regionale Versorgung, die verhindere, dass besonders „schwierige“ Erkrankte in Spezialeinrichtungen außerhalb des Sozialraums gebracht werden. 

Lauten Applaus erhielten Jens-Christian Mohr und Ava Johannson von der Erfahrenen-Vertretung Aktionsgemeinschaft Handlungsplan, die echte Partizipation in allen Einrichtungen und Ebenen forderten. Mehr Mitwirkung von Erfahrenen, die Kostenübernahme der Fortbildung und zudem feste Stellen für Genesungsbegleitung wünschten sich Mitglieder der EX-IN-Gruppe.

Selbstkritische Bilanz von Christel Achberger

Christel Achberger, Vorsitzende der Bundes-GDSP, zog eine auch recht selbstkritische Bilanz: „Angebote fehlen, aber wir tun auch zu wenig für Vernetzung. Kritische Themen wie Suizid blenden wir aus.“ Es gebe viel zu tun, und es bedürfe einer Zusammenarbeit, damit „die Politik ins Handeln“ kommt.

Die Politik blieb an diesem Tag außen vor – obwohl ursprünglich eine Diskussionsrunde „mit Vertreter:innen aus Politik und Verwaltung“ geplant war. Doch es gab keine Rückmeldungen, was auch daran liegen mag, dass die schwarz-grüne Landesregierung in Kiel die Ministerien so aufgeteilt hat, dass Gesundheit nun Teil des Justizressorts und Eingliederung im Sozialministerium angesiedelt ist. Damit ist die Zuständigkeit für Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke auf zwei Häuser verteilt – wie das genau funktionieren soll, ist bisher noch nicht ganz eindeutig.

René Skischally hielt die „politische Debatte ohne Politik“ am Ende sogar für einen Vorteil. Denn er wünscht sich, dass das Treffen in Neumünster Auftakt für einen Erneuerungsprozess wird. Dazu entstand eine Arbeitsgemeinschaft, die nun erarbeiten wird, was „gute Psychiatrie“ ausmacht. Auf der Basis der Prüfsteine wolle die DGSP mit Politik und Verwaltung ins Gespräch kommen, so Skischally.

  Esther Geißlinger

(Erstveröffentlichung in der EPPENDORFER Printausgabe 5/22)