Shoppen bis der Arzt kommt …

Kaufen kann der Emotionsregulierung dienen und zur Sucht werden. Foto: pixabay

Die moderne Konsumwelt und Internetshopping treiben sie voran – die Kaufsucht. Wer dabei an noble Boutiquen und große Scheine denkt, der liegt nicht unbedingt falsch. Wahr ist aber auch, dass zur Kaufsucht Schulden und großes Leid gehören sowie die Gefahr von psychischen Nebenerkrankungen und Gerichtsprozessen. Folgen können sein: Haft, Therapieauflagen oder Psychiatrie. Fachleute plädieren dafür, das pathologische Kaufen endlich als krankhafte Störung einzustufen und in die neue Version des Klassifikationssystems ICD (ICD-11) aufzunehmen, die ab 2022 gelten soll. Der EPPENDORFER sprach mit Sieglinde Zimmer-Fiene darüber, wie sie ihre Kaufsucht erlebte – und bewältigte.

Mehr als 30 Jahre bestimmte die Kaufsucht das Leben von Sieglinde Zimmer-Fiene (63), zunächst im vermeintlich Verborgenen, dann immer offensichtlicher, bis sie schließlich vor Gericht und in der geschlossenen Psychiatrie landete. Vor 17 Jahren entschied sie sich dann, mit ihrem Problem „nach draußen“ zu gehen. Ein Jahr später gründete sie in Hannover eine der ersten Kaufsucht-Selbsthilfegruppen Deutschlands. Heute kommt sie mit ihrer Kaufsucht weitgehend klar. Was sie durch ihre Erkrankung erlebte und erfuhr, beschrieb sie in ihrem Buch „Kaufsucht – mein Leben durch die Hölle“, das im Jahr 2007 erstmalig erschien.

„Den Unterschied zwischen zehn und tausend Euro merkt man irgendwann nicht mehr“, erzählt die zweifache Mutter Zimmer-Fiene im Gespräch mit dem EPPENDORFER. Sie selbst habe vor allem Kleidung gekauft – wobei sich ihre Ansprüche an Qualität und Luxus immer mehr gesteigert hätten. Das sei bald auch anderen aufgefallen: „Man wird darauf angesprochen und beginnt zu lügen – bis man schließlich in einem Lügenkarussell gefangen ist.“ Nach jedem wie in Trance abgelaufenen Kauf habe sie sich schlecht gefühlt, doch trotz finanzieller Probleme konnte sie die erworbenen Sachen nicht ins Geschäft zurückbringen: „Sie waren für mich wie Beute.“ Dass sie kaufsüchtig war, sei ihr klargeworden, als sie ihr Konto nicht mehr in den Griff bekam. 

Sieglinde Zimmer-Fienes Probleme begannen, als ihr Mann erkrankte und schließlich starb. Um ihre Trauer erträglicher zu machen, habe sie zu sich selbst gesagt: „Dann kaufe ich es mir halt schön.“ Hinzugekommen sei der Druck, bei der Arbeit und für die Töchter funktionieren zu müssen. Therapeuten hätten ihr anfangs prophezeit, das exzessive Kaufen würde aufhören, sobald der Verlust verarbeitet ist. Stattdessen habe sich die Kaufsucht gesteigert. Mit einer Kaufsucht als solcher habe anfangs niemand etwas anfangen können – kaum ein Therapeut, kaum eine Klinik. Dabei seien manche Betroffene so verzweifelt, dass sie sich deswegen das Leben nehmen. Doch niemand spreche dann von Kaufsucht, so Zimmer-Fiene. Es heiße dann immer allgemein: „Die Person hatte Schulden.“ Durch ihre Selbsthilfegruppe habe sie viele Menschen und Schicksale kennengelernt – aus allen Schichten und Berufsgruppen, darunter auch kaufsüchtige Politiker, Fußballer, Richter und Therapeuten.

Zu den schlimmsten Erfahrungen, die sie persönlich durchgemacht hat, zählt Zimmer-Fiene, dass sie durch die Kaufsucht in den Seelen ihrer Kinder viel kaputtgemacht hat – etwa dadurch, dass sie bei Einkäufen die Namen ihrer Töchter angegeben hat. „Diese Verletzungen bleiben halt ein Leben lang, und diese Schuld trage ich immer in mir.“ Weitere unschöne Begleiterscheinungen seien für sie Anzeigen, Hausdurchsuchungen und Festnahmen gewesen. Da die Kaufsucht nicht bekannt war, sei ihr in der forensischen Psychiatrie unterstellt worden,  Messie zu sein und an einer  Persönlichkeitsstörung zu leiden, was später widerlegt worden sei. An ihrem Aufenthalt in der Psychiatrie – wo sie sich in Gemeinschaftsräumen auch zwischen Sexualstraftätern wiedergefunden habe – seien ihre Angehörigen fast zerbrochen. „Ganz heilbar ist die Kaufsucht nie“, so Zimmer-Fiene. Sie habe ihre Sucht zwar seit mehreren Jahren im Griff, doch sie spüre immer mal wieder das Verlangen, etwas kaufen zu müssen. „Es ist ein Kampf – man schwitzt und arbeitet dagegen an.“ 

Sehr geholfen habe ihr die Selbsthilfegruppe. Es sei wichtig, auch nach einer Therapie am Ball zu bleiben und mit anderen Menschen sprechen zu können, die die gleichen Erfahrungen gemacht haben. Doch selbst unter denen, die eine Selbsthilfegruppe aufsuchen, erlebten viele auch Rückfälle. Und es dauere oft viele Jahre, eine Kaufsucht zu bezwingen. Sie selbst habe von 2008 bis 2016 auch Informationsveranstaltungen für Betroffene und Angehörige organisiert – mit Referenten, die heute als Kaufsucht-Experten gelten. In ihrer Selbsthilfegruppe sind übrigens gleich viele Männer und Frauen. Selbst die gekauften Produkte ähnelten sich. „Auch Frauen kaufen Handys – und auch Männer kaufen Schuhe.“

Wer den Verdacht hat, jemand aus der eigenen Familie oder dem Freundeskreis könnte kaufsüchtig sein, dem empfiehlt Zimmer-Fiene, dem Betroffenen zunächst einmal in einer ruhigen Minute zu sagen, dass man nichts Böses will, dass sein Verhalten jedoch auffällt. Im nächsten Schritt sei es wichtig, darüber zu informieren, dass es anonyme Selbsthilfegruppen und andere Hilfsmöglichkeiten gibt. Vor allem aber rät sie davon ab, finanziell einzuspringen. Das bringe nichts und zögere die Sache nur heraus. Zimmer-Fiene wünscht sich eine offizielle Anerkennung der Kaufsucht als Erkrankung, damit sich in der Zukunft mehr Therapeuten und Kliniken dem Thema annehmen.   Gesa Lampe

(Weiterer Bericht zum Thema „Kaufsucht in der Wissenschaft” in der aktuellen Printausgabe EPPENDORFER 1 / 2019)