Nüchtern

Der nüchterne Blick aufs Leben ist anders als einer, der von der Sucht nach Alkohol geprägt ist. Symbolfoto: unsplash

Warum trinkst du?“ fragte der kleine Prinz den Säufer. „Um zu vergessen“, antwortete der Säufer. „Um was zu vergessen?“ erkundigte sich der kleine Prinz. „Um zu vergessen, dass ich mich schäme“, gestand der Säufer. Weshalb schämst du dich?“ fragte der kleine Prinz. „Weil ich saufe“, endete der Säufer und verschloss sich endgültig in sein Schweigen.

Treffender könnte dieser Dialog – dem Buch „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupery entnommen – die Dynamik eines abhängig unglücklich Trinkenden nicht beschreiben.

Und mit dieser Dynamik, ebenso wie mit der Frage, wie man vielleicht doch einen Fuß in die Tür kriegen könnte, hinter der das Unglück der eigenen Abhängigkeit schweigend und verschämt wie hinter Festungsmauern gesichert liegt, befasst sich Daniel Schreiber in seinem beeindruckenden Buch „Nüchtern – Über das Trinken und das Glück“. Um mal die Pointe, die nur durch ihre nicht zu überbietende Banalität zur Pointe wird, vorwegzunehmen: Man hört mit dem Trinken auf, indem man damit aufhört.  Und das ist ebenso leicht wie schwer. Doch davon später. 

Schreiber führt uns mit seinem Text durch die Geschichte seiner Sucht, die irgendwann in Park Slope/N.Y. ihren Anfang nahm: „Stellen Sie sich vor, wie Sie ein Walnussbrot aufschneiden, einen provencalischen Ziegenkäse aus dem Einschlagpapier nehmen, ein paar Muskattrauben dazulegen und sich einen kalifornischen Pinot Noir ins Glas gießen. Wie Sie das Glas zum Mund führen, das weiche Aroma einatmen, einen Schluck nehmen und kurz darauf spüren, wie jenes warme Gefühl der Entspannung durch Ihren Körper fließt…“

„Verrat des authentischen Selbst”

Diese wunderbare und zutiefst verführerische Situation ist der Beginn eines lange Jahre währenden Selbstbetruges und – wie Schreiber später in seinem Text darlegt – eines „Verrates des authentischen Selbst“ an eine Substanz, die schnelle Befriedigung verspricht. Gemeint ist hiermit unser eigenes affektives Inneres, das Belastende und das Schwierige, das Anstrengende und das Wütende, das Traurige und Enttäuschte, all das, was wir nicht fühlen wollen, wobei es doch dazugehört zum Leben.

Als gefragter und erfolgreicher Autor und Journalist führt Schreiber ein ebenso erfolgreiches wie anstrengendes Leben, er ist häufig auf Reisen und auf Flughäfen ebenso zu Hause wie in Bars und Hotels. Sein täglicher und verlässlichster Begleiter, der ihm Glück und Entspannung verspricht, ist der Alkohol.

Irgendwann merkt er, dass er nicht nur Alkohol trinken Will, sondern dass er ihn trinken muss. Dass aus seiner Work-Life-Balance eine Work-Drinking-Balance geworden ist. Dass er sich ein Leben ohne Alkohol nicht mehr vorstellen kann. Er erkennt, dass er abhängig ist. Gleichzeitig versucht er, sich das Gegenteil zu beweisen. Er entwirft Strategien, Pläne und Programme, deren Umsetzung ihm zeigen sollen, dass er sich im Griff und unter Kontrolle hat. Er versucht, weniger zu trinken. Er legt Trinkpausen ein. Er trinkt nur noch an zwei Abenden pro Woche. Er achtet auf genügend Schlaf und nimmt vor dem Einschlafen ein Aspirin.

Von einem halbjährigen Versuch des Verzichts

Diesen halbjährigen Versuch, seinen Alkoholkonsum zu kontrollieren, beschreibt er im Nachhinein als „die anstrengendsten Monate, an die ich mich erinnern kann“. Und sie sind nicht mal erfolgreich. Denn je mehr er sich kontrolliert, desto mehr schreit – um es mit Alain Carr zu sagen – die Bestie in ihm nach Futter. Schreiber fokussiert es in dem Satz: „Die Kontrolle führt zum Kontrollverlust“.

Daniel Schreiber hat in all seinem Unglück Glück. Er hat Glück, weil er sein Unglück spürt. Und sein Unglück besteht darin, dass er sich selbst nicht mehr spürt, dass er das Gefühl hat, sich selbst verloren zu haben. Er fühlt sich wie tot. Und das ist vielleicht das größte Unglück, das einem Menschen widerfahren kann. Und er erkennt, in einem seiner zunehmend seltener werdenden klaren Momente, dass er mit dem Trinken ganz und gar aufhören muss. Weil er süchtig ist. Denn der Sucht wohnt die Maßlosigkeit inne. 

Er überwindet seine Scham und landet – mit Hilfe eines Freundes – in einer AA-Gruppe, der „größten funktionierenden Anarchie der Welt“ (ein guter und gelungener Konter gegen den Satz: „Lieber ein stadtbekannter Trinker als ein anonymer Alkoholiker“). Und wenn man genau hinschaut, so ist eigentlich jedes naserümpfende und leicht verächtliche Lächeln den AA gegenüber gänzlich unangebracht und im Grunde genommen geradezu dumm. Zu diesem Eindruck jedenfalls gelangt der Leser bei Schreibers Ausführungen über die AA, in denen er das mit Abstand wirksamste Therapeutikum gegen die Alkoholsucht sieht.

Er schafft es jeden Tag von Neuem

Daniel Schreiber hat es geschafft. Und er schafft es jeden Tag von Neuem. Denn das ist eine der Kernbotschaften der AA: Hier ist ein Glas Wein. Lass es stehen. Zumindest für heute! Über alles weitere kannst du morgen nachdenken! Und so geht es vielleicht nur darum, der Maßlosigkeit der Sucht die Begrenzung eines einzigen Tages entgegenzusetzen und sie damit zu besiegen. Jeden Tag von Neuem.

Vielleicht reicht es aus, sich der eigenen Sucht gewahr zu werden und die Scham, die mit diesem Gewahrwerden einhergeht, zu überwinden. Vielleicht reicht es zu sagen: So will ich nicht mehr leben. Es wäre eine Motivation aus dem Nein, aus der Negation heraus. Aber in der Suchtforschung heißt es auch: Den „dirty kick“ der Droge gilt es durch einen „clean kick“ zu ersetzen. Würde heißen zu sagen: Ich bin zwar berauscht, und das fühlt sich gut an, aber ich bin auch benebelt,  und dieser Preis ist mir zu hoch, denn ich will mich gut fühlen und gleichzeitig klar sein. Und wenn ich klar bin, kann mein Leben in einer Weise großartig sein, von dem ich jetzt – im Nebel der Sucht – Lichtjahre entfernt bin. Dies wäre die Motivation aus dem Ja heraus.

Obwohl Daniel Schreiber diesen Aspekt vernachlässigt, ist sein Buch unbedingt lesenswert. Denn er weiß, wovon er redet. Er weiß es aus eigener bitterer und letztendlich glücklicher Erfahrung, er weiß es aus intensivster gedanklicher Auseinandersetzung und er weiß es nicht zuletzt aus Büchern (der Text enthält unzählige gute Informationen, Studienergebnisse, Statistiken etc. zum Thema Alkoholsucht). 

Das Buch ist angenehm zu lesen, nicht nur, weil es flüssig und gut geschrieben ist, sondern weil es v.a. nicht belehren und missionieren will. Indem es Daniel Schreiber gelingt, seine Erfahrungen bei sich zu behalten und sie gleichwohl (mit)zuteilen, reicht er jedem die Hand. Aber ergreifen müsste sie der andere.        Martina de Ridder

„Nüchtern: Über das Trinken und das Glück“, Hanser Verlag, Berlin: 2014, ISBN 978-3-446-24650-8, 160 Seiten,  16,90 Euro.

(Der Originaltext erschien erstmals im EPPENDORFER 10/2016. Eine weitere Rezension der Autorin über das neueste Werk von Daniel Schreiber (“Allein”) lesen Sie in der nächsten Printausgabe 2/22, die Anfang März erscheint.)