Wenn der Name Edvard Munch fällt, denkt man sofort an seine in symbolistischer Manier gemalten und gedruckten, sensiblen, schwermütigen und morbiden Bilder wie „Der Schrei“, „Das kranke Kind“, „Der Tod im Krankenzimmer“, „Madonna“, „Vampir und die Sünde“ aus seiner ersten Schaffensperiode bis zum Jahre 1908. Weniger bekannt und ganz anders ist sein malerisches Werk aus der zweiten Hälfte seiner künstlerischen Karriere. Der Künstler litt lange unter anderem an Agoraphobie und Depression, schaffte aber später die Wende in eine hellere Periode.
Edvard Munch wurde am 12. Dezember 1863 in Loten, Norwegen, geboren. Seine nicht gerade glückliche Kindheit und Jugend verbrachte er in Kristiania, dem heutigen Oslo. Er litt als Kind unter häufigen Schüben von Bronchitis und unter Gelenkrheuma. Als er fünf Jahre alt war, starb seine Mutter mit 33 Jahren an Tuberkulose. Neun Jahre später erlag auch seine ältere Schwester Sophie im Alter von 15 Jahren dieser Krankheit. Dieser Verlust verfolgte Munch lebenslang. Seine Betroffenheit verarbeitete er später in den Bildern „Das kranke Kind“ (1885/86) und „Der Tod im Krankenzimmer“ (1893).
Der Vater, ein wahnhaft religiöser Stabsarzt, der später Armenarzt wurde, und seine zweite Schwester Laura litten unter schwerer Depression, sein Bruder Andreas starb wenige Monate nach der Hochzeit. Munch schrieb einmal: „Krankheit, Wahnsinn und Tod hielten wie schwarze Engel Wacht an meiner Wiege. Sie haben mich durch mein ganzes Leben begleitet.“ Die zahlreichen Todesfälle und Krankheiten in der Familie prägten sein Leben, seine psychische Befindlichkeit und sein künstlerisches Schaffen sehr stark. Er schrieb 1920: „In meinem Elternhaus hausten Krankheit und Tod. Ich habe wohl nie das Unglück von dort überwunden. Es ist auch für meine Kunst bestimmend gewesen.“
Tante fördert künstlerisches Talent
Edvard zeigte bereits als Kind künstlerisches Talent, welches von seiner Tante gefördert wurde. Nach einem abgebrochenen Ingenieurstudium schrieb er sich 1881 als Schüler in der Zeichenklasse der Kongelige Tagneskole in Oslo ein. 1882 mietete er mit sechs anderen Künstlern ein Atelier. 1884 gelangte er in Kontakt mit der Kristiania Bohéme, einer Gruppe von Künstlern, Schriftstellern und Studenten, die von dem anarchistischen Schriftsteller Hans Jäger angeführt wurde. Und lernte den führenden norwegischen Naturalisten Christian Krohg kennen. Der ständig suchende, rastlose Künstler unternahm mehrere Reisen nach Frankreich, Italien, in die Schweiz und immer wieder nach Deutschland, wo er mit Unterbrechungen längere Zeit lebte.
Anfangs wurde seine Malerei von Kritikern und Publikum abgelehnt, gar verspottet. 1892 wurde eine Ausstellung mit 55 seiner Bilder auf Einladung des Berliner Künstlervereins nach einigen Tagen geschlossen und löste die Bildung der Berliner Secession aus. Als er zehn Jahre später an der Ausstellung der Berliner Secession teilnahm, gelang ihm der Durchbruch. Durch die Teilnahme an der Sonderbund-Ausstellung in Köln 1912, wo seine Werke in einem Ehrensaal neben Van Gogh, Gauguin und Cezanne hingen, errang er weltweite Anerkennung.
Die treibende Kraft von Munchs symbolistisch aufgeladener künstlerischer Arbeit während der frühen Schaffensperiode war die Sichtbarmachung der psychischen Befindlichkeiten, wobei er, der sich als „Anatom der Seele“ betrachtete, sein eigenes Inneres nach außen kehrte. Seine Themen kreisten zum einen um die grundlegenden Erfahrungen der menschlichen Existenz wie Leben, Tod, Liebe und Eros, zum anderen um traumatische Kindheitserinnerungen, schmerzhafte persönliche Erlebnisse, unerfüllte Sehnsucht, Eifersucht, ein Gefühl der Leere und Vereinsamung. Und um das Geschlechterverhältnis und die Lebensangst, immer wieder Lebensangst. Dazu äußerte er sich einmal so: „Wie viel verdanke ich doch in meiner Kunst dem Leiden… Ohne Lebensangst und Krankheit wäre ich ein Schiff ohne Ruder gewesen.“
Lebensangst und unglückliche Amouren
Munchs Leben war geprägt von dramatischen Spannungen mit bitteren Erfahrungen, Lebensangst und von verschiedenen unglücklichen Amouren. Da die Kunst Dreh- und Angelpunkt seines Lebens war und seine Bekanntschaften unglücklich verliefen, hat Edvard Munch nie geheiratet. Munch litt unter Agoraphobie und Depression mit Verfolgungswahn und Suizidgedanken. Zudem war er alkoholabhängig und betrieb Medikamentenmissbrauch mit Schlaf- und Aufputschmitteln. Er war oft gereizt, unausgeglichen und stand unter großer Spannung, die sich manchmal auf unschöne Weise entlud. Als seine Freundin Tulla Larsen 1902 ihn zur Heirat zwingen wollte, endete der Streit darüber tragisch. Er schoss sich mit einer Pistole ein Fingerglied der linken Hand ab.
Im Oktober 1908 erlitt er in Kopenhagen einen schweren körperlichen und seelischen Zusammenbruch mit akustischen Halluzinationen und Lähmungen auf der linken Seite. Nach acht Monaten Aufenthalt in der Nervenklinik von Dr. Jacobson wurde er als genesen entlassen und kehrte im Mai 1909 nach Norwegen zurück. In Kragerö fand er ein Haus und richtete sich ein Atelier ein. Gesund geworden, ließ er sein turbulentes Leben hinter sich und führte ein zurückgezogenes, streng geregeltes und naturverbundenes Leben. Seine pessimistisch-melancholische Grundstimmung verflüchtigte sich.
Nach acht Monaten Nervenklinik als genesen entlassen
Mit der Wende in Munchs Leben vollzog sich auch ein grundlegender Wandel seines künstlerischen Schaffens. Es begann sowohl motivisch als auch stilistisch „eine neue Ära“. Dazu schrieb Munch: „Mit meinen früheren Bildern habe ich abgeschlossen.“ Befreit von den Qualen seiner Psyche und mit einem erstaunlichen Arbeitseifer wandte er sich nun mehr der Natur zu. Anstelle von Seelenlandschaften malte er Küsten- und Winterlandschaften, Gärten, Arbeiter, Fischer, Bauern, Tiere sowie Selbstporträts und Porträts. Die dunklen, gedämpften und matten Töne seiner Palette wichen den hellen Farben, die nicht mehr flächig, sondern mit lockerer, flockiger Pinselführung aufgetragen wurden. Er nahm auch immer wieder seine frühen Bildmotive auf, ohne melancholische Gefühlslage.
1916 erwarb er ein großes Anwesen in Ekely nahe Oslo. Dort lebte und malte er bis zu seinem Tod, umgeben von Haushälterin, Köchen, Gärtnern und von einem sehr kleinen Freundeskreis. Nicht nur Malerei stand im Mittelpunkt seines Schaffens. Er schuf auch unzählige Zeichnungen, Aquarelle und Skulpturen, beherrschte alle druckgrafischen Verfahren virtuos. Munch starb am 23. Januar 1944 an den Folgen einer schweren, verschleppten Erkältung. Kurz vor seinem Tode vermachte er ein Konvolut von 28.000 fertigen und unfertigen Werken (Gemälde, Zeichnungen, Aquarelle, Druckgrafiken, Holzschnitte, Radierungen, Lithografien, Kupferplatten und Skulpturen) sowie Fotos, Skizzen- und Tagebücher und Manuskripte der Stadt Oslo. Sie sind heute im Munch Museum beheimatet. Munch, der bereits zu Lebzeiten als Jahrhundertkünstler gepriesen wurde, übte großen Einfluss auf die nachfolgenden Künstlergenerationen aus und wurde neben Van Gogh und Gauguin einer der Wegbereiter des deutschen Expressionismus. Turhan Demirel