„Mir brennt das
unter den Nägeln”

Klaus Petzold vor seinem einst selbst ausgebauten Reetdachhaus. Foto: Hinrichs

Die moderne Psychiatrie setzt zunehmend auf Hausbesuche. Der EPPENDORFER schließt sich an und besucht in loser Folge Menschen, die der Psychiatrie etwas zu sagen haben. Dieses Mal reisten wir nach Ostholstein, zu dem Psychiater Klaus Petzold.

„Ich besorg’ Kuchen“, hatte er versprochen. Dabei ist der Weg zum Bäcker weit. Acht Kilometer. Da braucht man schon ein Auto. Hier auf dem Land, zwischen Neustadt und Eutin. In einem 400 Einwohner-Dorf, wo Klaus Petzold ein altes Reetdachhaus bewohnt, zusammen mit seiner zweiten Frau, einer Psychiaterin, und unter einem Dach mit einem erwachsenen Sohn. Und mit einem schicken Sportwagen als Gefährt. Landleben und selbst ausgebautes altes Haus – das passt irgendwie zu dem langjährigen Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpDi) Ostholstein, den man auch für einen Alt-68er halten könnte, wenn man ihn sieht – für den er mit 67 allerdings zu jung ist. Aber ein schnelles Auto? Das passt, gerade weil es sich nicht in gängige Schubladen fügt …

Los ging es mit dem Leben in Österreich. Geboren wurde er in der Steiermark, wo er die ersten Jahre lebte, bis es den Vater, einen Ingenieur, beruflich in die Nähe von Segeberg zog. Mit 16 kam er auf die Idee, Landarzt zu werden. Und weil er als Sohn einer Österreicherin in Graz ohne Numerus Clausus einen Studienplatz bekam, begann er dort zu studieren. Nicht nur Medizin, vor allem das Leben. Mal in die Architektur reinschnuppern, mal in die Jazz-Akademie vor Ort, die Liebe zur Gitarre entdecken. Im Winter in die Berge, im Sommer an die Adria, erzählt er. Daneben mit 26 das erste von fünf Kindern mit in die Welt setzen – heute hat er elf Enkel und einen Urenkel.

Geburt und Studium in Österreich


Aber dann zog es ihn doch zurück nach Deutschland. Studienabschluss mit 30 in Würzburg. Während des Studiums arbeitete er in der neuroimmunologischen Grundlagenforschung. Zur Facharztausbildung wechselte er in die neurologische Universitätsklinik Göttingen. In seiner Zeit in der Psychiatrie erkannte er, dass Forschung, seine Vorstellungen zum Umgang mit Patienten und eine 7-köpfige Familie nicht unter einen Hut passten. Hier entstand Begeisterung für das Fach. Und hier reifte die Erkenntnis: „Wir behandeln die Menschen super, entlassen sie stabilisiert, und nach einigen Monaten kommen sie krank zurück – wir sind am falschen Ort, psychische Krankheit findet im wirklichen Leben statt.“
Dieser Erkenntnis folgend übernahm er nach dem Abschluss der Facharztausbildung den sozialpsychiatrischen Dienst im Kreis Ostholstein, den er 27 Jahre lang leitete.

27 Jahre lang leitete er den sozialpsychiatrischen Dienst im Kreis Ostholstein


39 Jahre war er, als er dort 1996 anfing. „Die ersten zwei Jahre waren brutal“, sagt er. Die Familie hatte „die Ruine“, das alte Haus, gekauft, wo er in der Freizeit selbst Hand anlegt, und er hatte keine Erfahrung mit Verwaltung. Aber hinschmeißen? „Wir ziehen nicht mehr um“, sagten die Kinder. Und so wuchs er rein in den öffentlichen Dienst, lernte mit Verwaltung umzugehen und Strategien zu entwickeln. Betrieb Inklusion, als noch keiner davon sprach. Erfuhr, wie hilfreich ein Hund ist, um einen Angstpatienten aus dem Haus zu locken. Verhandelte mit Ämtern, damit Patienten keine Hundesteuer zahlen müssen oder Tierarztkosten und damit Beiträge für Sportvereine und VHS-Kurse übernommen wurden.


Besonders bemerkenswert: die Anekdote mit der Gitarre. Eine Mutter hatte ihn um Hilfe gebeten, weil sich ihr Sohn im Zimmer eingeschlossen hatte. Sie erzählt Petzold, dass der Sohn früher Gitarre gespielt hat. Bald darauf kommt der Psychiater wieder und setzt sich mit seiner Gitarre vor das Zimmerfenster des Jungen und spielt. Und beim nächsten Besuch klappt es: Der Sohn spielt mit, eine Beziehung entsteht. Schließlich besuchen sie gemeinsam die örtliche Begegnungsstätte. Als sie dort Gitarre spielen, kommen andere dazu, eine Musikgruppe entsteht, die auch auftritt. „Musikalisch grauenhaft“, sagt Petzold und verzieht das Gesicht. Aber er blieb dabei. Zehn Jahre lang.

Er ist auch überregional engagiert – und „Teilzeitrentner”


Als Kern der Arbeit im SpDi nennt er: „niedrigschwellige Hilfen, frühzeitige Kontaktaufnahmen nach Informationen durch Dritte, langfristige, nachgehende Begleitung von chronisch kranken Menschen „mit eingeschränktem Hilfeannahmeverhalten“, Vermeidung von Zwangsmaßnahmen, „aber auch die fachlich qualifizierte Umsetzung von Schutzmaßnahmen“. Grundlage „bei dieser interessanten und vielseitigen Tätigkeit“ müsse eine sozialpsychiatrische Grundhaltung sein.


Neben der Arbeit in Ostholstein – als „Teilzeitrentner“ ist er immer noch mit einer halben Stelle beim SpDi aktiv – ist er auch überregional engagiert. Er war Sprecher der AG der SpDi Schleswig-Holstein und an der Erarbeitung des PsychHG – SH 2020 beteiligt. Er ist Mitglied des Fachausschusses Psychiatrie des Bundesverbands der Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst, Dozent an der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen und Mitglied der Steuerungsgruppe des Bundesnetzwerks der SpDi. Er war an der Erarbeitung der inzwischen vom BMG anerkannten Kernaufgaben beteiligt, und er hält Vorträge bei Kongressen. Zweimal monatlich hält er daneben noch eine Sprechstunde für traumatisierte Geflüchtete ab.

„Beruf war für mich immer Berufung”


Der Beruf sei für ihn immer Berufung gewesen, nicht Arbeit, sagt er, und dass es ihm Spaß mache zu schauen, wo er wenigstens Kleinigkeiten verbessern könne. Und er regt sich einfach auf. „Mir brennt das unter den Nägeln“, sagt er und meint die schlechte Versorgung schwer kranker Menschen in einer Gesellschaft mit Fachkräftemangel, Abnahme an Toleranz und eine Überbürokratisierung, die dazu führe, dass immer weniger Leute bereit seien Verantwortung zu übernehmen. „Die Vermittlung sozialpsychiatrischer Haltung und das Anstoßen und Beleben der Diskussion von Problemen in der psychiatrischen Versorgung ist mir wichtig“, sagt er.


Besonders beschäftigt ihn aktuell die Diskussion zum Thema Zwang. Hier sieht er einen „Tunnelblick“ auf den „sicherlich zu häufig angewandten Zwang“ innerhalb der Psychiatrie. „Eine Abwägung gegenüber den Zwängen, denen unbehandelte schwerkranke Menschen ausgeliefert sind, wie soziale Isolation, Job- und Wohnungsverlust u.s.w. findet nicht statt, die Rechte des Umfelds der Betroffenen werden nicht berücksichtigt, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird nicht gewahrt“, so Petzold. Entscheidend sei, wie Zwang, wenn erforderlich, umgesetzt wird: „mit Respekt unter Wahrung der Würde des Betroffenen.“

Besonders beschäftigt ihn die Diskussion zum Thema Zwangsmaßnahmen


Kritisch sieht er auch die Umsetzung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. „Grundverständnis sollte sein, dass sowohl Psychiatrie wie auch Justiz Menschen ein freies und selbstbestimmtes Leben ermöglichen wollen“, meint er. Ein schwer psychisch Kranker sei aber „Gefangener seiner Krankheit, nicht frei“, sagt er. Ein selbstbestimmtes Leben gebe es da nicht. „Unsere Aufgabe“, meint Petzold, sei es, „dem Patienten zu ermöglichen, frei zu entscheiden. Das ist unsere Fürsorgepflicht.“ Die Schwelle zu Unterbringungen gegen den Willen sei erheblich höher geworden. Das führe zu Chronifizierungen, sozialer Desintegration und Wohnungslosigkeit. Dies sei auch eine Ursache für die Zunahme der forensisch untergebrachten Menschen, von ca. 4000 1996 bis auf nahezu 12.000 in 2022. „Die heute überregulierten Verfahren führen dazu, dass Menschen über Wochen unbehandelt eingesperrt sind“, sagt er. In Ostholstein treffe dies auf derzeit ca. 20 Prozent der Patienten auf Akutstationen zu. Daraus folge eine Zunahme von Zwangsmaßnahmen wie Fixierungen, eine erhebliche Belastung von Mitpatienten und Personal und eine Abwanderung von Fachkräften.


Was muss passieren? „Wir brauchen Psychiater, die über den Tellerrand gucken und die Lebensumwelt betrachten, wir brauchen Deregulierung und Entschlackung auf verschiedenen Rechtsebenen und Diskussionen über Zwang und dessen Bewertung. Wir müssen wegkommen von Schwarz-Weiß-Malerei und differenziert hinschauen. Zwang nicht per se als etwas Negatives sehen. Fürsorgepflicht als Bestandteil einbeziehen“, fordert er.

Privat träumte der Hobbysegler eigentlich von einer Weltumseglung, sein eigentlicher Plan für die Rente. Aber erstmal bleibt er „Teilzeitrentner“: Er hat nochmal beim SpDi in Ostholstein verlängert.

Anke Hinrichs (Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 1/25)