In seiner Studie „Bildnerei der Geisteskranken“ stellte Hans Prinzhorn 1922 zehn „schizophrene Meister“ vor – alles Männer. Nur einer Frau wollte er darüber hinaus eine Einzeldarstellung widmen, Else Blankenhorn (1873–1920), doch dazu kam es nicht. In den folgenden hundert Jahren war sie aber in 98 Ausstellungen im In- und Ausland vertreten und avancierte so zum heimlichen Star der Sammlung. 2022, im Jubiläumsjahr von Prinzhorns Buch, führt die Sammlung Prinzhorn des Universitätsklinikums Heidelberg, Klinik für Allgemeine Psychiatrie, gewissermaßen seine Arbeit fort und widmet Else Blankenhorn erstmals eine umfassende Retrospektive.
Wer war Else Blankenhorn?
Else Blankenhorn stammte aus einer wohlhabenden Weindynastie aus Müllheim (Baden). Sie genoss eine standesgemäße Bildung und wurde bei Hofe eingeführt. Wegen einer psychischen Krise kam die 26-Jährige 1899 bis 1902 in das renommierten Schweizer Privatsanatorium Bellevue in Kreuzlingen. Als ihre Ehepläne scheiterten und ihr Vater und ihre Großmutter kurz nacheinander starben, kehrte sie 1906 ins Bellevue zurück. Hier wurde sie künstlerisch tätig, begann zu malen, zeichnen und zu übersetzen. Und sie ging “im Geiste“ eine Verbindung mit Kaiser Wilhelm II. ein, von dem sie die karitative Aufgabe zu erhalten meinte, die Auferstehung begrabener Liebespaare zu finanzieren. Viele ihrer Werke kreisen um ideale Liebe. Blankenhorn lebte zurückgezogen und menschenscheu. Aufgrund der Inflation – so die „Ausstellungsmacher“ – musste sie 1919 in die staatliche deutsche Anstalt Reichenau bei Konstanz umziehen. Dort starb sie 1920 an Krebs. Im selben Jahr wurden Hans Prinzhorn mehr als 300 Werke Blankenhorns (Malereien, Zeichnungen, Notiz- und Tagebücher mit Dichtungen und musikalischen Kompositionen) für seine Sammlung übergeben. Ihr Oeuvre blieb lange das umfangreichste innerhalb der Sammlung.
Eine ganz eigene künstlerische Bildsprache
Die Autodidaktin Else Blankenhorn entwickelt im Bellevue einen unverkennbaren Stil. „Melancholisch wirkende langgestreckte oder sitzend fließende Figuren stellt sie vor traumhaften Landschaften dar. In der Regel zeigt sie sich selbst, oftmals auch zusammen mit Wilhelm II., den sie durch seinen charakteristischen Schnurrbart zu erkennen gibt“, heißt es in der Museums-Beschreibung. Ihre Gestalten versetzt sie häufig in eine florale Umgebung, verziert sie mit Blüten, lässt sie auseinander hervorwachsen oder stellt sie als pflanzlich-menschliche Mischwesen dar. Stilistisch stehen den Malereien ihre „Geldscheine“ über fantastische Summen gegenüber. Hier tritt sie als Kaiserin in Begleitung von Schutzengeln in Erscheinung und legitimiert ihre Banknotenproduktion durch Reichsstempel, Reichsadler und Kaiserkrone.
Das Bellevue als Ermöglichungsort
Else Blankenhorn war eine privilegierte Patientin. Statt in einer der staatlichen psychiatrischen Anstalten war sie im privaten Schweizer Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee untergebracht. Hier hatte sie eigene Räumlichkeiten und eine eigene Pflegerin, Malutensilien wurden von ihrer Familie gestellt. Und die Ärzt*innen unterstützten freies künstlerisches Arbeiten. Der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929), der russische Choreograf und Tänzer Vaslav Nijinsky (1889–1950), der Maler Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) sowie seine Schülerin Nele van de Velde (1897–1965) wurden im Bellevue zu schöpferischer Tätigkeit als Mittel zur Heilung angeregt. Der Leiter des Sanatoriums Dr. Ludwig Binswanger (1881–1966) machte Kircher während seines dortigen Aufenthalts auf ihre Werke aufmerksam und animierte ihn dazu, etwas über Blankenhorn zu schreiben. In seinem Skizzenbuch hielt der expressionistische Künstler u.a. fest: „Die Farben sind mit einer fast unglaublichen Feinfühligkeit nebeneinander gesetzt, rein und stark, nur dem Gefühl entspringend, spotten sie jeder akademischen Lehre. Man sieht, dass sie rein impulsiv nur dem Ausdruck der Empfindung dienen. So wachsen diese Bilder zu Kunstwerken höchster Art.“
Outsider Art von Frauen
Blankenhorn nehme als Frau eine wichtige Position im Feld der Outsider Art ein, heißt es in der Pressemitteilung der Sammlung Prinzhorn weiter. Zur Zeit Blankenhorns sei weibliche Kreativität in Anstalten nicht im selben Maße gewürdigt worden wie die von männlichen Insassen. In der Sammlung Prinzhorn stammen nur 25 Prozent der damaligen Werke von Frauen, obwohl nicht weniger Frauen als Männer in psychiatrischen Institutionen untergebracht waren. Heute würden die selteneren historischen künstlerischen Werke von Anstaltsinsassinnen wegen ihrer oftmals berührenden persönlichen Botschaften besonders geschätzt. Und im Zuge wachsender Gleichberechtigung werde auch Art Brut von Frauen mehr beachtet. Deshalb sei zu erwarten, „dass unsere lange fällige Retrospektive der Künstlerin Else Blankenhorn nur den Anfang einer intensiven Auseinandersetzung mit ihrem Werk bedeutet.“ (rd)
Else Blankenhorn – eine Retrospektive, Sammlung Prinzhorn, Voßstraße 2, 69115 Heidelberg, www.sammlung-prinzhorn.de
Ausstellungsdauer: bis 22. Januar 2023