Kunst zum
„Heim-Bleiben”

Verblüffend-realistisches Sommeridyll an der Elbe mit der Hamburger Gastro-Legende: Walburga und Michael Hellwig vor ihrer Strandperle. Fotos (4): Atelier Hellwig

Ein Berliner Ehepaar verschönt Pflegeeinrichtungen mit detailreich-realistischen Bildern – und diese entfalten nicht nur ästhetische Wirkung. Die großformatige Wandbilder helfen,
die Hinlauftendenzen (früher Weglauftendenz genannt) von Menschen mit Demenz zu reduzieren.

Jedes Detail muss stimmen. Die Klappstühle mit Holzlehnen, die Tische, der Flaggenmast, das Bade-Warnschild, die roten Sonnenschirme, die verschachtelten Gebäude am Elbwanderweg dahinter, das quirlige Strandpanorama samt Abbruchkante, die Kräne des Waltershofer Containerterminals. Erst dann sind die Hellwigs zufrieden – in diesem Fall mit der Strandperle, der 51 Jahre alten Gastro-Legende direkt an der Elbe. Das realistische Sommeridyll ziert jetzt eine Wand in einer Hamburger Pflegeeinrichtung.


Das Berliner Ehepaar Hellwig hat sich im Lauf der vergangenen Jahre einen Ruf als „Spezialisten für Illusionsmalerei“ in Pflegeeinrichtungen ermalt. Therapeutische Ästhetik sozusagen: Die detailreichen Bilder laden die Bewohnerinnen und Bewohner zum Betrachten und Verweilen ein – und tragen dazu bei, dass sich Demenzerkrankte nicht auf den gefährlichen Weg nach draußen begeben. Flur- oder Fahrstuhltüren sind darum ebenfalls ein Fall für die Hellwigs. Sie malen beispielsweise detailreiche Schränke, Speisekammern oder Regale auf die Türen. Effekt: „Kaum ein Demenzpatient kommt auf die Idee, den Raum durch einen Schrank zu verlassen“, so Walburga Hellwig – ein geeignetes Mittel, um „Hinlauftendenzen” sanft zu reduzieren.

Demenzpatienten können jederzeit etwas Neues entdecken


Ob großformatige Wandbilder oder kleinere Werke: Allen gemein ist, dass Demenzpatienten immer und jederzeit etwas Neues entdecken können. Das Prinzip des klassischen Wimmelbilds – es wirkt und steigert spontan Laune und Stimmung beim Betrachten. So detailreich die Motive, so viel Wert legen die Hellwigs auf exakte Vorbereitung. Neben der Strandperle haben sie in Hamburg beispielsweise Hafenmotive, Stadtteilpanoramen, den botanischen Garten, Binnen- und Außenalster, Speicher und Kräne gemalt. Vor dem eigentlichen Pinselstrich machen sich die beiden erstmal selbst ein Bild vor Ort. Stadt- und Hafenrundfahrt, Erkundungsgänge, Recherche im Internet und in Bibliotheken stehen an. Die Kamera ist permanent im Einsatz, eine Mischung aus Dokumentation und fotografischem Notizbuch entsteht. „Das gehört zwar zur Arbeit, macht zugleich aber auch Spaß“, sagt Michael Hellwig. „So lernt man in jeder Stadt Ecken und Winkel kennen, die einem sonst verborgen bleiben.“ Bevor sie zu Werke gehen, stimmen sie mit der jeweiligen Einrichtung die gewünschten Motive ab.


Bei Interieurs kommt es auf zeitgeschichtliche Genauigkeit an. Soll beispielsweise ein Küchenmotiv entstehen, sollten die Utensilien den Betrachtenden in etwa aus der Jugend bekannt sein. Einen Thermomix sucht man daher vergebens auf den Gemälden. Die Menschen sollen sich wohlfühlen. Die Hellwigs versuchen, mit ihren hellen, farbenfrohen Bildern Sonne und Licht in die Einrichtungen zu bringen.
Als Farbe bevorzugen die beiden schnell trocknendes und lichtechtes Acryl. Stoßfest sollte es auch sein: Gerade Ältere neigen mit ihren Rollatoren zur Ungeduld beim Betrachten der vielen Einzelheiten. Für die künstlerische Arbeit stellen sie ihren Schlaf-Wach-Rhythmus auf den Kopf: Gemalt wird – heimbedingt – nur nachts. Die durchschnittliche Arbeitsnacht dauert von 20 bis 4 Uhr. Der bisher größte Auftrag: drei große Wände in einer Hamburger Einrichtung. 21 Nächte haben die Hellwigs für detaillierteste Stadtansichten durchgemalt. „Wir dürften jetzt wohl jedes Gebäude in Hamburg kennen“, schmunzelt Michael Hellwig. Auch und gerade bei solchen Großpanoramen müsse zudem die Perspektive genau stimmen, um den Eindruck von Wirklichkeit entstehen zu lassen.

Auch zu später Stunde können Bewohnerinnen und Bewohner auf Achse sein


Nicht selten holt nächtens die Heimwirklichkeit das Künstlerpaar ein: Auch zu später Stunde können Bewohnerinnen und Bewohner auf Achse sein und wollen mithelfen. „Gut, dass wir zu zweit sind“, sagt Michael Hellwig, „dann kann einer von uns den Besucher wieder auf sein Zimmer bringen“.
Die Liste ihrer Auftraggeber ist lang. Die Hellwigs sind nicht nur im Bundesgebiet gefragt. Der ungewöhnlichste Auftrag kam aus der Schweiz: Sie sollten die Wände von drei Bereichen einer Forensik verschönern. „Die Sicherheitsbelehrungen und -vorkehrungen waren äußerst streng. Ob Schere, Cutter oder dergleichen: Wir mussten nach jedem Gebrauch alles sicher verstauen.“ Für den Fall der Fälle wurden die beiden mit einem Panikknopf ausgestattet. Aber der kam nicht zum Einsatz. Nichts Bedrohliches geschah, die Patientinnen und Patienten waren eher friedfertig-neugierig. Anders sei es in einer Abteilung für Korsakov-Patienten gewesen. „Krankheitsbedingt waren einige völlig enthemmt und unberechenbar, wir hatten richtig Angst“, erinnert sich Walburga Hellwig.

Bei manchen Motiven fangen verstummte Patienten plötzlich an zu sprechen


Die Bilder, so Walburga Hellwig, haben häufig auch eine unmittelbare Wirkung auf die Betrachtenden, wie man sie ansonsten durch Musik kennt, wenn Demente unvermittelt zu singen beginnen. „Bei manchen Motiven kommt es vor, dass ansonsten völlig verstummte Patienten beim Betrachten plötzlich anfangen zu lächeln und zu sprechen, zu kommentieren mit einem ,Wie wunderschön das ist …‘.“
„Mit unserer Malerei lassen wir obendrein Treppenhaustüren und Fahr-
stühle optisch verschwinden, verschönern Säulen, gestalten Eingangs- und Aufenthaltsbereiche und beziehen die örtlichen Gegebenheiten mit ein“, sagt Walburga Hellwig. Das mache die großen und zugleich filigran gestalteten Wandbilder so wirkungsvoll im Gegensatz etwa zu Fototapeten, wo beispielsweise Handläufe, Stoßbretter, Feuerlöscher oder Klinken optisch gravierende Fremdkörper bleiben. Die Hellwigs integrieren diese Gegenstände, sie sind Teil der Kunst. Die beiden sind ein eingespieltes Team mit einer gewissen Sujetteilung: Walburga Hellwig widmet sich mit Vorliebe technischen Details von der Nähmaschine bis zur Hafenfähre, ihr Mann Michael bevorzugt Natur, Landschaft und Himmel.


Kennenlernen in der Königlichen Porzellanmanufaktur KPM

Die Hellwigs lernten einander schon früh kennen: 1980 in der Königlichen Porzellanmanufaktur KPM in Berlin – er war „Altmaler“, sie Azubi. Fünf Jahre sollte es noch dauern, dann funkte es nicht nur künstlerisch zwischen beiden. Nach 18 KPM-Jahren wollten sie schließlich etwas Neues wagen. „Immer nur Blümchen? Das kann nicht alles gewesen sein“, erinnert sich Michael Hellwig. Sie wechselten zu einer Firma für Stoff- und Tapetendesign, die wiederum nach zehn Jahren dicht machte.
Die entscheidende Weichenstellung ging damals von einem befreundeten Gerontologie-Professor aus: Er hatte in kanadischen Heimen die Illusionskunst kennengelernt. 2009 sind die beiden in ihre neue Zukunft gestartet – die sich als alles andere als Illusion erwiesen hat.
Michael Göttsche