Geschichte
einer Mutter

Heidi Menßen hat ihren Kampf um das Wohlergehen ihres psychisch kranken Sohns aufgeschrieben und ihren Frieden damit gemacht. Foto: hin

Es hätte auch ,eine einfache Geschichte’ heißen können“, sagt sie am Ende des Gesprächs in einem kleinen Café in Hamburg-Bahrenfeld. Es ging dabei um die Geschichte, die sie veröffentlicht hat. Es ist ihre Geschichte: die Geschichte einer Mutter, die um das Wohlergehen ihres heute 48-jährigen Sohnes kämpft, der an einer schizophrenen Psychose leidet – und zeitweise auch am Hilfesystem. Heidi Menßen, 76, hat die Geschichte aufgeschrieben und so ihren Frieden gemacht, auch mit den zeitweise empörenden Begleitumständen der wahren Krankengeschichte, die hier ausgebreitet wird. Diese und der aufrichtige Kampfesmut der Mutter machen „Wertschätzung“ indes zu einer nicht einfachen Geschichte. Zu einer Anklage ohne Anklage sein zu wollen. „Ich will niemanden verletzen“, sagt sie, die sich nach langjährigem Engagement auch für andere Kranke und Angehörige und für das Hilfssystem selbst verletzt fühlte und schließlich ausstieg aus dem Rahmen der psychosozialen Arbeitsgemeinschaft, in der sie sich viele Jahre lang intensiv und kreativ engagiert hatte. 

Es beginnt 1995. Kurz vor dem Abitur verändert sich Jonas (Name geändert), schubweise kommt Aggression dazu. Er beginnt ein Studium, doch es wird immer schwieriger mit ihm. 2002 spitzt sich die Situation derart zu, dass Heidi Menßen den Sozialpsychiatrischen Dienst (SpD) des Kreises Herzogtum Lauenburg anruft.  „Hier sind sie richtig“, sagt die Stimme am Telefon, die Hoffnung weckt, sie letztlich in das System holt und sie durch das Labyrinth führt – ein solches ziert auch das Buch-Cover. Die Stimme gehört einem Mann, der ihren Lebensweg als „Mentor“, wie sie ihn nennt, begleiten wird: dem Geschäftsführer der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft (PSAG), Andreas Adelmeyer. Sie mag den Namen nicht sagen, sie will diskret sein, aber einem Pressebericht ist er schwarz auf weiß zu entnehmen. 

Sie fühlt sich eingebunden in die sozialpsychiatrische Gemeinschaft

Sie fühlt sich bald eingebunden in die sozialpsychiatrische Gemeinschaft, für die sie später auch Musikabende, Lesungen und Benefizveranstaltungen auf die Beine stellt. Aller Anfang indes ist schwer: „Wie lange dauert denn diese Krankheit“, fragte sie beim ersten Kontakt den SpDi-Mitarbeiter. Später macht sie sich selbst schlau, findet Entlastung in einer Angehörigengruppe.

Jonas wird nach einem ersten Psychiatrieaufenthalt wieder entlassen, weil er sich einer Behandlung und Medikamenten verwehrt. Die Mutter erfährt, dass ohne Selbst- oder Fremdgefährdung keine ärztliche Behandlung ohne Einwilligung des Patienten stattfinden kann und wird mit der Gratwanderung zwischen Verantwortungspflicht und Abgrenzungsbedarf konfrontiert. Die gelernte Sekretärin und Betriebsratsvorsitzende in einem Modeunternehmen findet Ausgleich in der Amateurschauspielerei, sie bringt später auch eigene Theaterstücke auf die Bühne. Und sie  liest viel. Bücher, die ihr Trost geben. Das Buch ist gespickt mit Zitaten, von Hesse, Rilke, Celan und Frankl bis Asmus Finzen und Sibylle Prinz.  

Jonas wird zum chronisch kranken Patienten

Jonas wird zum chronisch kranken Patienten. Er durchläuft mehrere Einrichtungen, macht eine Ausbildung zum Fachinformatiker, er wird selbstständiger, ist aber gestresst, ein Praktikum muss er vorzeitig beenden, er schafft keine Vollzeitwoche und muss in die Klinik, deren Chefarzt (es handelt sich wohl um den früheren Geesthachter  Chefarzt) ihnen zur Seite steht und Jonas auch an Wochenenden betreut („Das sind Augenblicke, die mich halten“). 

Jonas besteht die Prüfungen, doch die Eingliederung in den Arbeitsmarkt misslingt. Er zieht sich zurück in seine Wohnung, die er irgendwann nicht mehr verlässt. Der Umzug in eine teilstationäre Einrichtung scheint zunächst gut und richtig. Dann offenbart sich ein Dilemma. „Schon nach sehr kurzer Zeit bemerke ich, dass er in seiner neuen Bleibe keine Betreuung erhält.“ Sie beschreibt, dass er nicht zum Mittagessen geht, aber auch nicht abgeholt wird. Dass er im Bett liegt und nicht mehr aufsteht. Dass in dem Wohnhaus ab 5 Uhr oft niemand mehr von den Angestellten dort gewesen sei. Wenn abends der soziale Dienst an den Türen klingelte, habe niemand geöffnet. Die Mutter fährt zweimal die Woche zu ihm und übernimmt Aufgaben, die eigentlich andere übernehmen müssten. 

„Es gibt auch heute noch unhaltbare Missstände in der psychiatrischen Landschaft”

Sie, die engagierte Angehörige, die an AG-Sitzungen teilnimmt und Psychose-Seminare leitet, lernt: „Es gibt eben grundsätzlich auch heute noch immer unhaltbare Missstände in der psychiatrischen Landschaft, die vermieden werden können. Sie geschehen in der Stille. Man findet sie auch immer noch in Einrichtungen und bei Berufsbetreuern, die die Angehörigen ignorieren und mit wenig oder auch nicht hinreichend geeignetem Personal arbeiten. Es gibt sie aber auch in den sozialen Ämtern, die ihre Ärzte mit Fragebogen aussenden, um zu prüfen, ob der Erkrankte schon wieder allein ins Leben darf, damit Gelder eingespart werden. Die Welt weiß nichts davon, weil sie es nicht wissen will.“

Der traurige Höhepunkt klingt wie ein Fall unterlassener Hilfeleistung. Jonas geht es zunehmend körperlich schlechter, die besorgte Mutter ruft aus der Ferne den SpDi an, der einen Mitarbeiter losschickt, der nur mit Hilfe des Hausmeisters und durch einen Keller in das verlassene Haus habe gelangen können. In der Klinik wird ein Herzinfarkt entdeckt, so Menßen, der sich schon Tage vorher ereignet haben müsse. Wochenlang werden nun schwerste Wassereinlagerungen aus dem Körper herausgepumpt. Bei dem starken Raucher wird eine Schilddrüsenüberfunktion festgestellt, schreibt sie. Entsprechende Werte seien lange nicht und auch nicht in der Psychiatrie   erhoben worden. 

„Wer kontrolliert eigentlich die Einrichtungen?”

Heidi Menßen beschloss, ihren eigenen Fall in einer Sitzung der PSAG zu thematisieren, bei der auch Vertreter der Einrichtung anwesend gewesen seien. Sie habe dort eine Mauer zwischen sich und den anderen gespürt, beschreibt sie es. „Herzinfarkt in einer teilstationären Einrichtung und keiner bemerkt etwas. Wer kontrolliert eigentlich die Einrichtungen?“ fragte sie in Form eines Tagesordnungspunkts. Die Antwort sei Schweigen gewesen. 

„Wenn wir nicht länger in der Lage sind eine Situation zu ändern, sind wir gefordert, uns selbst zu ändern“, zitiert sie an dieser Stelle Viktor Frankl. Sie kann nicht verstehen, dass sie keine Antwort, keine Resonanz erhält und verlässt die AG. Und resümiert: „Als ich mich 2001 mit ihnen verband, hatte ich wenig Mut zum ,Ich’ … Ich fügte mich ein, lernte und arbeitete mit ihnen. 2016 verlasse ich still die Gemeinschaft mit dem Bewusstsein, ihnen ebenbürtig zu sein.“

„Für die Probleme schwer Kranker gibt es immer noch keine Lobby”

Sie ist an ihrer Geschichte gewachsen. Auch dank des Yoga, das die schlanke Frau dreimal in der Woche praktiziert. Und dank des autobiografischen Schreibens, das sie schließlich zu dem Buch führte, das während Corona heranwuchs und mit dem sie die Öffentlichkeit aufmerksam machen will auf die Probleme schwer Kranker, für die es immer noch keine Lobby gebe. 

Jonas fing wieder neu an. Er lebt jetzt mit schwachem Herzen in einer betreuten WG, wird laut seiner Mutter gut betreut, isst vegan, besucht am Wochenende die Eltern. Seine psychische Gesundheit bleibt schwankend. Und last but not least gibt es auch aus der Psychiatrie im Kreis Herzogtum Lauenburg eine Art kleines Happy End zu vermelden. Im Frühjahr gründeten Kreisverwaltung, Krankenhaus und 9 Einrichtungen und Vereine einen Gemeindepsychiatrischen Verbund. Durch ihn soll einem Zeitungsbericht zufolge vor allem für die gut ein Dutzend schwer Erkrankten unter den rund 1000 Eingliederungshilfebeziehern in Krisenfällen schneller geeignete Hilfe organisiert werden.   Anke Hinrichs

Heidi Menßen: „Wertschätzung – Der Kampf einer Mutter um das Wohlergehen ihres Kindes“, Noel-Verlag 2021, TB, 173 S., 14,90 Euro