Missbrauch
im Sport

Der Schwimmsport steht aktuell besonders im Rampenlicht. Foto: screenshot / ARD

Es  ist bis heute ein Tabu: Missbrauch und sexuelle Gewalt im Sport. Aktuell muss sich der Deutsche Schwimm-Verband  mit schweren Vorwürfen auseinandersetzen: Wasserspringer Jan Hempel spricht in einer  ARD-Doku  erstmals über schwere sexuelle Übergriffe in der Jugend.  Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die  in den vergangenen Jahren Missbrauch in familiärem Rahmen, in der DDR und in Kirchen untersucht hatte, nahm sich 2020 im Rahmen eines digital übertragenen Hearings der sexuellen Gewalt im Leistungs- und Breitensport an.   

Marie Dinkel, 24,  war elf, als sie als Teil einer Wettkampftruppe Privatunterricht im Judo bekam. Einer der Trainer missbrauchte die drei Schülerinnen, von der immer eine mit ihm kämpfen musste. „Wenn er uns am Boden festgehalten hat, konnten wir nichts mehr machen“, berichtet Marie Dinkel. Er fasste ihnen in die Hose. Monatelang schweigen sie, binden sich in der Not die Hosen extra fest zu. Als sie es dann doch den Eltern erzählen, erstatten diese Strafanzeige. Für ein Verfahren hätte Marie Dinkel das Geschehen nochmal vor Gericht schildern müssen, das hätten ihre Eltern nicht gewollt, erklärt sie, warum es nicht zu einem Verfahren kam. So flog der Täter nur aus dem Verein. 

Als sie mit 18, als angehende Physiotherapeutin, erfuhr, dass er immer noch Judo unterrichtet, fing es bei ihr an: Panikattacken, Übelkeit, starke Gewichtsabnahme. Diagnose: PTBS mit dissoziativen Störungen. Sie hat lange gebraucht, um ihre Erfahrungen aufzuarbeiten. 

Panikattacken, Übelkeit, PTBS

Marie Dinkel ist an diesem Tag, dem 13. Oktober, live aus der Schweiz nach Berlin zugeschaltet, von wo die Präsenzveranstaltung mit wenigen Teilnehmenden virtuell als Live-Stream übertragen wird. In die Alpenrepublik ist sie vor einem Jahr mit ihrem Freund  gezogen, sie arbeitet als Physiotherapeutin in einer Psychiatrie. Dem Sport ist sie treu geblieben. Sie ist selbst Judotrainerin geworden, „damit ich anderen helfen kann.“ 

Seit einem Aufruf im vergangenen Jahr haben sich bei der Kommission rund 100 Menschen mit Missbrauchserfahrungen im Sport gemeldet, überwiegend Frauen. Die Kommission geht jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus. Zur Häufigkeit von Gewalterfahrungen verwies Prof. Dr. Bettina Rulofs von der Bergischen Universität Wuppertal auf eine 2016 veröffentlichte Studie, für die 1529 Wettkampfsportler befragt wurden. Von diesen berichteten 37 Prozent von mindestens einer sexualisierten Erfahrung im Kontext Sport. 

Studie: 37 Prozent berichten von mindestens einer sexualisierten Erfahrung

Der Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch im Breiten- und Leistungssport sei immer noch weitgehend ein Tabu, so Prof. Dr. Sabine Andresen, (damalige) Vorsitzende der Kommission. Diese  forderte von den Sportverbänden, unabhängige Anlaufstellen für Betroffene einzurichten. Kindeswohlbeauftragte für Mädchen und Jungen in allen Vereinen wünschte sich auch Marie Dinkel. Aber auch mehr Trainerinnen und die Voraussetzung eines polizeilichen Führungszeugnisses für Ehrenamtler. 

Sieben Millionen Vereinsmitglieder unter 18 Jahren

Die Gefahrenquelle ist groß. Rund acht Millionen Ehrenamtliche kümmern sich um rund sieben Millionen Mitglieder unter 18 Jahren in circa 90.000 Sportvereinen. Ein Bereich, in dem Erwachsene leicht Zugang zum Körper von Jugendlichen erhalten, so in Duschen und/oder Umkleiden oder bei Autofahrten zu Wettkämpfen. Oft seien die Grenzen zwischen notwendiger Berührung und sexualisiertem Übergriff unklar, machte Prof. Dr. Bettina Rulofs deutlich. Verursacher seien überwiegend Männer, teils seien diese wegen ihrer Vereinstätigkeit sehr angesehen und schwer zu kritisieren, schilderte sie ein weiteres Strukturproblem. Auch Hierarchien und Leistungsdruck begünstigen Missbrauch. Folge: Meistens werden Übergriffe, die von anzüglichen Bemerkungen bis zu schweren Vergewaltigungen reichen können, totgeschwiegen. Typischerweise auch aus Scham. „Ich habe mich geschämt. Ich hatte das Gefühl, ich bin schuld“, berichtete auch Marie Dinkel.

Noch etwas scheint an ihrem Fall symptomatisch zu sein. „Es ist leider ein Muster, dass Opfer den Tatkontext verlassen müssen und die Täter bleiben. Wir müssen dafür sorgen, dass die Täter entfernt werden“, so Matthias Katsch vom Betroffenenrat der Aufarbeitungskommission. Er wurde als Schüler von  Jesuitenpatres missbraucht und machte zusammen mit Freunden den Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich. A. Hinrichs

(Originalveröffentlichung in der Printausgabe 6/2020)