Das Hamburger Straßenmagazin “Hinz&Kunzt” soll auch künftig die “soziale Stimme der Stadt” sein. Für die neue Chefredakteurin Annette Bruhns (54) umfasst das Thema allerdings weit mehr als nur Obdachlosigkeit. Wenn etwa Freibäder geschlossen werden, bedeute das gerade für arme Familien eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität. Die langjährige “Spiegel”-Redakteurin löste zum Jahreswechsel Birgit Müller (64) ab, die nach 25 Jahren als Chefredakteurin in den Ruhestand trat.
Nicht jede Ausgabe müsse einen Obdachlosen auf dem Titel zeigen, sagt Bruhns. Dabei werde das Thema an Bedeutung zunehmen. Die Corona-Pandemie werde für viele Menschen mit einem wirtschaftlichen Ruin einhergehen. “Da fallen etliche durch den Rost.” Deutliche Kritik übt sie am Winternotprogramm der Stadt: Viele obdachlose Menschen würden die Sammelunterkünfte meiden, um sich nicht mit dem Corona-Virus anzustecken. Auch Alkohol und Gewalt würden viele abschrecken. “Da geht es oft sehr rau zu.” Der Staat bürde die nötige Einzelunterbringung der Zivilgesellschaft auf, die diese mühsam über Spenden für Hotelbetten einigen wenigen ermöglicht.
Besonders schwierig ist laut Bruhns derzeit für Menschen aus Polen, Rumänien oder Bulgarien, die mittlerweile einen Großteil der obdachlosen Menschen bilden. “Erst sorgen sie in deutschen Schlachthöfen für billiges Grillfleisch, und im Anschluss leben sie dann teilweise auf der Straße.” Die Unterkünfte der Schlachtbetriebe seien zum Teil schlechter als im Gefängnis, so ihre Recherche. Ohne feste Anstellung hätten viele von ihnen nicht einmal Anspruch auf Hartz IV. “Wo bleibt da unsere Verantwortung?”
Die Themenpalette des Blattes möchte die neue Chefredakteurin, die privat oft als Skipperin auf Elbe und Nordsee unterwegs ist, verbreitern. Für die Dezember-Ausgabe hat sie die Titelgeschichte geschrieben, die sich mit Rezepten gegen die Verödung der Innenstadt und Rezepten gegen Amazon und Co auseinandersetzt. Mögliche neue Themen wären die Verschlickung der kleinen Häfen durch die Elbvertiefung, neue Sportarten für jedermann oder die Wirkungslosigkeit vieler teurer Medikamente. Dank ihrer guten Verbindungen will sie auch hochkarätige Journalisten gewinnen. Bruhns: “Und ein bisschen mehr Humor würde dem Blatt auch nicht schaden.”
Zu den schwierigsten Aufgaben im neuen Job gehört die Gestaltung der Digitalisierung, um jüngere Leserinnen und Leser zu gewinnen. Charakteristisch für “Hinz&Kunzt” ist der persönliche Verkauf durch Obdach- oder Wohnungslose. Eine Online-Ausgabe des Straßenmagazins mache da wenig Sinn, so Bruhns. Doch jüngere Kunden hätten zudem kaum noch Bargeld dabei und würden alles mit Karte bezahlen. Die Corona-Pandemie habe diesen Trend noch verstärkt. Denkbar wäre eine Bezahlung über einen QR-Code bei den Verkäufern. Doch dazu müssten noch viele Fragen geklärt werden, darunter auch steuerrechtliche. (epd-Gespräch: Thomas Morell)