Gesichtsverlust?

Masken verbergen wichtige Mimik. TraumatherapeutInnen befürchten Triggergefahr. Foto: Thommy Weiss/pixelio.de

Über Gesichter und Masken in Zeiten der Pandemie: Corona brachte nicht nur Angst und Ansteckung mit sich, sondern auch die Maskenpflicht, die anfangs auch in Therapien und Supervisionen Einzug hielt. Was macht das Verbergen von Gesichtsteilen und Mimik mit den Menschen – und was bedeutet das für Patienten und professionelle Helfer, speziell die Psychotherapeuten?

An der Supermarktkasse ist es relativ einfach. Wir können auf das Gesicht verzichten. Auch wenn es ungewohnt ist und sich fremd anfühlt, von lauter Maskengesichtern umgeben zu sein. Die Kassiererin sagt: 28,50 Euro! Man guckt auf den Betrag, der oben in der Kasse erscheint. Ja, 28,50. Bezahlen. Schönen Tag! Ja danke, Ihnen auch! Bestenfalls noch: Und bleiben Sie gesund! War das vorher anders? Gab es vor Corona den Blick ins Gesicht? Wechselseitig gar? Nahmen wir uns die Zeit, das Gesicht des Gegenübers wahrzunehmen, zu erfassen, zu lesen? Wohl kaum. Doch jetzt, wo die Krise bzw. die Pflicht zur Maske uns das Gesicht quasi vorenthält, jetzt wollen wir es sehen. Aber wir dürfen nicht. Und hier – an der Supermarktkasse – ist das nicht so schlimm.

Was aber geschieht in Situationen, in denen wir das Gesicht brauchen? Was geschieht in den Seelen von Kindern, die ihre Kitabetreuerin nur noch maskiert „zu Gesicht“ bekommen? Was geschieht in den Gedanken und Gefühlen von pflegebedürftigen oder gar sterbenden Menschen, die ihren liebsten und nächsten Angehörigen nur noch ins maskierte Gesicht bzw. nur noch in die Augen schauen dürfen? Und was bedeutet die Gesichtsmaskierung für eine therapeutische Beziehung, in der es um die Erforschung und Wahrnehmung der Gefühlswelten des Patienten geht? Und wie kann diese gelingen ohne das Gesicht?

43 Gesichtsmuskeln

Paul Ekman, der weltweit bedeutendste Gesichts- und Emotionsforscher, unterscheidet 43 Gesichtsmuskeln, mit denen wir mehr als 10.000 Gesichtsausdrücke erzeugen können. „Es gibt keinen Ausdruck, den ich nicht kenne“, so Ekman. Er arbeitet für die CIA ebenso wie für das FBI. Nach einem von ihm entwickelten Codiersystem, dem Facial Action Coding System (FACS), werden auf amerikanischen Flughäfen mit Kameras die Gesichtsausdrücke von Passagieren erfasst mit dem Ziel, potentielle Terroristen zu identifizieren. Aber Ekman ist sich der Begrenztheit seiner Erkenntnisse durchaus bewusst: „Ich sehe, wie Sie sich fühlen, aber was hinter Ihren Gefühlen steckt, das weiß ich nicht.“

Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Trauer und Überraschung

Ekman liest also in der Mimik des Gesichts und vermag diesen Ausdruck in Gefühle zu übersetzen. Er unterscheidet die sieben Basisemotionen Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Trauer und Überraschung. Aber auch wenn diese Kernemotionen in Form bestimmter mimischer Ausdrücke auf einem Gesicht wahrnehmbar sind: ob es sich hier um das unwillkürliche, von spontanen Impulsen geprägte Gesicht handelt oder um ein absichtsvoll modelliertes Gesicht, also eine Maske, diese Frage bleibt zunächst offen. Sicher ist: Das Gefühl kann den Ausdruck, aber ebenso kann der Ausdruck das Gefühl widerspiegeln. 

Ekman: „Das Überraschendste an unserer Arbeit war die Feststellung, dass manche Gefühle erst entstehen, weil man einen bestimmten Gesichtsausdruck aufsetzt. An Tagen, an denen wir stundenlang wütende oder depressive Ausdrücke übten, mussten wir uns eingestehen, dass es uns miserabel ging. Wenn wir auf unseren Gesichtern Glück und Zufriedenheit simulierten, waren wir anschließend tatsächlich bester Laune.“

„Mach die Geste, das Gefühl folgt nach!“

Und Stanislawski, ein bedeutender Theaterpädagoge, pflegte seinen Schülern zu sagen: „Mach die Geste, das Gefühl folgt nach!“ Doch zurück zur Maske als einem bewussten Akt des Verbergens. Der philosophische Anthropologe Helmuth Plessner sprach (schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts) vom „Recht auf Maske“ im Sinne des Schutzes unseres Innern vor Entblößung und Lächerlichkeit, einer Maske also, die wir uns selbst ins Gesicht zaubern, um hinter ihr das Ureigenste verbergen zu können. 

„In einem vulgären Zeitalter wie dem unsrigen brauchen wir alle Masken…Unsere Gesichter sind Masken, die uns die Natur verlieh, damit wir unseren Charakter dahinter verbergen“, sagte Oscar Wilde. Und er ging noch weiter: „Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er für sich selbst spricht. Gib ihm eine Maske, und er wird dir die Wahrheit sagen.“ Ein bisschen wie im Karneval, den die Menschen v.a. deshalb so sehr lieben, weil sie eben nicht „erkannt“ werden, weil sie ihr wahres Inneres zeigen bzw. leben dürfen, eben weil es hinter der Maske verborgen bleibt und für das Außen nicht identifizierbar ist. 

Was nun bedeutet dieses Paradoxon der Maske für die professionellen Helfer – und hier insbesondere für die Psychotherapeuten und ihre Patienten – in Coronazeiten? Müssen wir jetzt von der Maskierung der (Gesichts-)Maske sprechen? Schopenhauer drückte es so aus: „…Vielmehr ist jedes Menschengesicht eine Hieroglyphe, die sich allerdings entziffern lässt, ja, deren Alphabet wir fertig in uns tragen.“ 

Klar ist, dass Therapeuten bemüht sind, die Gefühle ihrer Patienten auf ihren Gesichtern wahrzunehmen und zu erfassen. Und wenn ihnen der Gesichtsausdruck des Patienten als ein „absichtsvoll modellierter“ – also als Maske – erscheint, so werden sie ihren Patienten damit konfrontieren mit dem Ziel, zum dahinterliegenden wahren Ausdruck vorzudringen. Nun aber stoßen sie mit ihrem Bemühen gegen die (stoffliche) Maske, die all dies verbirgt. Therapeuten und Supervisoren berichten unisono von der enormen Anstrengung, die die therapeutische Arbeit hinter der (Stoff)maske für alle Beteiligten bedeutet. 

Die Studien haben gerade begonnen. Es gibt noch keine Ergebnisse. Aber es lässt sich vermuten, dass der Versuch, das Gegenüber wahrzunehmen, zu erkennen und zu erfassen, mehr braucht als Augen und Sprache, sondern eben das ganze Gesicht. Vielleicht in dem Sinne, wie Harold Brodkey es in seinem Text „Unschuld“ ausdrückt: „Denn wir bleiben lebenslang Kinder und legen bis zum Tode die Köpfe in den Nacken, um den Ausdruck auf den Gesichtern der Erwachsenen zu entziffern.“  

                    Martina de Ridder


(Quellen: Paul Ekman: „What the face reveals – Series in Affective Science“; Nina Abassi: „Gedanken zur Materie der Maske, humanistisch.net; Gustav Seibt: „Vom Recht auf Maske“, SZ 24.4.2020; Harold Brodkey: „Unschuld“, zitiert nach: Gisela von Wysocki: „Fremde Bühnen – Mitteilungen über das menschliche Gesicht“, EVA.)