Viele von ihnen können nicht sprechen, einige schlagen um sich, tragen Helme, um sich nicht selbst zu verletzen, sie gelten als Schwerstfälle: Junge Menschen, die so schwer an Autismus leiden, dass sie alle überfordern und große Probleme haben, eine Einrichtung zu finden, die sie aufnimmt. In Frankreich hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein regelrechtes Schattensystem entwickelt, bei dem nicht zertifizierte Einrichtungen sich ausgerechnet um die schwierigsten Fälle kümmern. Der an diesem Donnerstag in den Kinos anlaufende Film „Alles außer gewöhnlich” aus Frankreich hat sich ausgerechnet dieses eigentlich schwer vermittelbaren Themas angenommen. Und die Umsetzung ist den Regisseuren des Sensationserfolgs „Ziemlich beste Freunde“ um die Freundschaft zwischen einem Mann im Rollstuhl und seinem unkonventionellen Pfleger – Olivier Nakache und Éric Toledano – mit liebevollem Blick und viel Humor erstaunlich gut gelungen.
„Darf ich meine Mutter hauen?“ „Nein”, sagt Bruno. „Darf ich Deine Socken sehen?“ Auch das darf Benjamin nicht. Wieder und wieder wird er von der Polizei gestellt, weil er während der Bahnfahrt zwanghaft die Notbremse zieht. Immerhin gelingt es die Zeit bis dahin immer weiter hinauszuziehen. „Da fehlt nicht mehr viel“, kommentiert Benjamin dies wieder und wieder – und baut seine Erregung ab, indem er Waschmaschinenwerbung in Dauerschleife guckt. „Das beruhigt ihn“, erklärt seine Mutter Bruno.
Bruno, die Hauptfigur dieses „Feelgood-Movies“, ist Chef der Einrichtung, die bedingungslos Schwerstfälle aufnimmt und erfinderisch und mit viel Geduld und 1:1 Betreuung große Erfolge hat. Dabei werden Buchhaltung und Korrektheit vernachlässigt, schon mal zu viele Betreuer eingestellt und auch solche ohne Diplom. Jetzt droht der Einrichtung die Schließung: Die „Gesundheitspolizei“ ist da, Behördenvertreter überprüfen die unkonventionelle und nicht offiziell anerkannte Einrichtung. Doch Zeit sich darum zu kümmern hat Bruno (Vincent Cassel) keine, ständig klingelt das Telefon. „Ich finde eine Lösung“ sagt er ein ums andere Mal.
Hinter dem Film verbirgt sich die wahre Geschichte des Erziehers Stéphane Benhamou, der das Duo zu der Figur Brunos inspirierte. Toledano und Nakache lernten ihn vor mehr als 20 Jahren in einem Ferienlager kennen, wo beide als Betreuer arbeiteten. Bruno ist jüdisch, Kollege Ego Malik (Reda Kateb), der die Rolle von Daoud Tatou spielt, ist Moslem. Inklusion wird hier nicht nur über Behinderungen, sondern auch über Hautfarben und Religionen hinweg vorgeführt. Auch das hat reale Hintergründe. Es gibt sie, die Organisation, die sich um junge Autisten kümmert und zugleich um die soziale und berufliche Wiedereingliederung junger Menschen aus Brennpunkt-Vierteln. Alle Szenen des Films – inklusive einer dramatischen Ausreißszene – hätten sich in der Realität zugetragen, heißt es im Presseheft. Beim Dreh wurde mit echten Betreuern und Autisten zusammengearbeitet.
„Ein sorgfältig recherchierter Film, der einen liebe- und respektvollen Blick auf alle Protagonisten wirft und dem es mit großer Wärme und Leichtigkeit gelingt, ein komplexes und gesellschaftlich hochrelevantes Thema zu erzählen“, urteilte die Filmbewertungsstelle, die dem Film das Prädikat „besonders wertvoll“ verlieh. Zu Recht! Anke Hinrichs
Zum Trailer: https://www.kino.de/film/alles-ausser-gewoehnlich-2019/