Das Drama der
Familie Miller

Martin Miller im Gespräch über seine Mutter Alice. Foto: SwissDok

Alice Miller (1923-2010) war – und ist – als Psychoanalytikerin weltberühmt, ihre Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt. Ihre Bestseller wie „Das Drama des begabten Kindes“ sind bis heute ein Begriff. Doch all dem Wissen zum Trotz: Dem eigenen Sohn konnte sie keine gute Kindheit sichern.  Dieselbe Frau, die als eine der ersten sexuellen Missbrauch an Kindern thematisierte, die sich gegen das Schlagen von Kindern einsetzte, reinszenierte ohnmächtig ihr verdrängtes eigenes Trauma. Darum geht es in dem Schweizer Dokumentarfilm „Who’s afraid of Alice Miller“, der im November auch in (ausgewählten) deutschen Kinos zu sehen ist. 

Der Film gibt Antworten auf die Diskrepanz zwischen der Kinderpsychologin Alice Miller und der zerstörerischen Mutter. Der Regisseur Daniel Howald begleitet ihren Sohn Martin Miller auf einer Spuren- und Erklärungssuche für sein eigenes Kindheitsdrama: Als der 1950 geborene Sohn im Alter von fünf Jahren aus einem Heim zu den Eltern kommt, stößt er auf Gefühlskälte und wird vom Vater, einem Soziologieprofessor und Generalsekretär der Schweizerischen Hochschulrektorenkonferenz, geschlagen, später zieht er in ein katholisches Internat. Nach dem Tod seiner Mutter sucht Martin Miller Erklärungen. Und er entdeckt, was zwischen ihm und seiner Mutter steht: „das größte Drama des 20. Jahrhunderts, die Shoa, die Vernichtung des jüdischen Volkes. Die junge Alice Miller überlebte als Jüdin unter falscher Identität in Warschau mitten unter den Nazis – und musste alle Gräueltaten miterleben. Aber diese traumatischen Erlebnisse verdrängt Alice und spaltet sie ein Leben lang ab“, heißt es in der Synopsis des Films. 

Film thematisiert unbewusste Auswirkungen des Holocaust-Traumas

Miller ist ebenfalls Psychotherapeut   und lebt heute mit Frau und Hunden in der Schweiz. 2013 schrieb er das Buch „Das wahre Drama des begabten Kindes. Wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken“. Der Film ist eine Recherchereise zu Orten seiner Familiengeschichte. Je tiefer Martin in die Biographie seiner Mutter eindringt, desto deutlicher wird ihm: „Sein eigener seelischer Schmerz ist das Erbe von etwas, das er selbst nie erlebt hat.“ Der Film thematisiert die unbewussten und belastenden Auswirkungen des Holocaust-Traumas.

Auch Oliver Schubbe, der Therapeut von Alice Miller, kommt zu Wort. Sie hatte ihn für die Zeit nach ihrem Tod ausdrücklich von der therapeutischen Schweigepflicht entbunden. Diese habe in einer psychologischen Übertragung in ihrem Sohn die Figur eines Naziverfolgers gesehen. Darin erkennt Oliver Schubbe einen besonders tragischen Fall von transgenerationaler Traumavererbung (s. https://whosafraidofalicemiller.com). 

Die Probleme der zweiten Generation betrifft auch heutige Geflüchtete

Doch hier bleibt der Film nicht stehen – er schlägt einen Bogen zu heute. „Immer mehr wird deutlich, dass die zweite Generation, die Nachfahren der Überlebenden von Genoziden und Kriegsverbrechen, schwerste Symptome von Traumatisierungen zeigen“,  so Autor und Regisseur Daniel Howald mit Blick auf heutige Geflüchtete aus Ländern wie Syrien. „Dieser Film kann helfen, frühzeitig Bewusstsein für diese Problematik zu schaffen, um diesen Menschen aktiv zu helfen“, hofft er. 

                 (hin)

„Who’s afraid of Alice Miller?“, Bundesdeutscher Kinostart: 11. November.