Wie kann man ein mehr als 100 Jahre altes festungsähnliches Gebäude nutzen und zugleich ein Kunstwerk retten? Über diese Frage haben sich niedersächsische Politiker und Behörden lange den Kopf zerbrochen. Jetzt hat das Land Niedersachsen eine Lösung für die Immobilie gefunden, die auch den Verbleib der einzigartigen Klingebiel-Zelle in Göttingen sichert.
Seit 2016 steht das so genannte „Feste Haus“ in Göttingen leer. Eine Nachnutzung für das einstige „Verwahrhaus“ für psychisch Kranke zu finden, war nicht nur wegen der wuchtigen Architektur schwierig, sondern auch wegen einer anderen Besonderheit: Ein Raum in dem Gebäude steht unter Denkmalschutz. Der Psychiatrie-Patient Julius Klingebiel hat dort in den 1950-er Jahren seine Zelle nahezu komplett ausgemalt und damit ein einzigartiges Raumkunstwerk geschaffen. Künftig soll das „Feste Haus“ als Archäologiedepot für das Landesmuseum Hannover und das Braunschweigische Landesmuseum dienen. Gleichzeitig soll damit auch die „Klingebiel-Zelle“ interessierten Besuchern zugänglich gemacht werden.
Zuletzt war das “Feste Haus” Außenstelle des Maßregelvollzugszentrums Moringen
Zuletzt war das „Feste Haus“ als Außenstelle des Niedersächsischen Maßregelvollzugszentrums in Moringen genutzt worden. Im März 2016 zogen die letzten dort untergebrachten Patienten in eine neue Spezialklinik um. In der Folgezeit gab es verschiedene Überlegungen, wie man das Gebäude zukünftig nutzen könnte. Einige Göttinger schlugen vor, darin Probenräume für Musikgruppen einzurichten, andere wollten Unterkünfte für Geflüchtete schaffen, wieder andere ein generationenübergreifendes Wohnprojekt realisieren. Eine Idee kam in Göttingen gar nicht gut an: Das Sprengel- Museum wollte die Wandmalereien der Klingebiel-Zelle nach Hannover transferieren und in seine Sammlung aufnehmen. Einstimmig entschied der Stadtrat, dass die Zelle in Göttingen bleiben soll.
Auch Hannover wollte die Zelle – für die Sammlung des Sprengel-Museums
Jetzt hat das Staatliche Baumanagement in Abstimmung mit dem Ministerium für Wissenschaft und Kultur, dem Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege und den Landesmuseen in Hannover und Braunschweig einen Plan erarbeitet, der zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: Die Zelle bleibt, wo sie ist, und das gefängnisartige Gebäude wird so hergerichtet, dass es als Museumsdepot genutzt werden kann.
„Beide Museen haben seit Jahren akute Raumnot,“ sagt Marcus Rogge, Leiter des Staatlichen Baumanagements Südniedersachsen. Hier biete das „Feste Haus“ gleich zwei Vorteile: Zum einen gibt es viel Platz, zum anderen ist bei dieser festungsartigen Architektur mit hohen Außenmauern, massiven Wänden und vergitterten Fenstern der Einbruchsschutz quasi schon integriert.
Vorher sind einige Bau- und Sanierungsarbeiten nötig. Diese sollen voraussichtlich im Frühjahr 2024 starten und rund 4,6 Millionen Euro kosten. Große Umbauten sind dabei nicht geplant, die frühere Nutzung wird auch weiterhin erkennbar sein. So bleiben beispielsweise die Gitter an Fenstern und Türen erhalten, auch in der einstigen Zelle von Julius Klingebiel.
Zwölf Jahre – von 1951 bis 1963 – war Klingebiel in der knapp zehn Quadratmeter großen Zelle untergebracht und hat dort die Wände bemalt, zunächst mit rudimentären Mitteln wie verkohlten Holzstücken und Steinen. Weil das Bemalen von Wänden nicht erlaubt war, musste er anfangs alles wieder abwaschen oder übertünchen. Dann fiel den Ärzten auf, dass der zu emotionalen Ausbrüchen neigende Patient ruhiger und konzentrierter war, wenn er an seinen Bildern arbeitete. Um diesen positiven Effekt zu unterstützen, bekam er die „Lizenz zum Malen“ und richtige Farben. Heute gelten seine Malereien als einzigartiges Beispiel der so genannten „Outsider-Kunst“. Heidi Niemann (pid)
Julius Klingebiel
Der aus Hannover stammende Julius Klingebiel (1904 – 1965) wurde 1939 als „gefährlicher Geisteskranker“ in die Psychiatrie eingewiesen, zunächst in die Nervenklinik Langenhagen, dann in die Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf. 1940 wurde er als Opfer der NS-Rassengesetze zwangssterilisiert und in das damalige gefängnisartige „Verwahrhaus“ in Göttingen verlegt. Als Patient mit der Diagnose Schizophrenie hätte er eigentlich unter das Tötungsprogramm der Nationalsozialisten fallen müssen, aus unbekannten Gründen tauchte er aber nie auf den Meldelisten für die so genannten „T4“-Aktionen auf. Klingebiel überlebte die NS-Zeit, blieb aber auch danach weiter bis zu seinem Tod in der Psychiatrie untergebracht – ohne dass es dazu je einen richterlichen Beschluss gegeben hätte. (pid)
(Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 4/23)