Entspannen, abtauchen, Gefühle und innere Bilder ausdrücken: Kunst wirkt sich positiv auf die mentale Gesundheit aus. Im Klinikum Wahrendorff sind Malen, Schreiben und Musik wichtige Bausteine bei der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen.
In Vikis Bildern tobt das Leben. Ihre Kunstwerke stecken voller winziger Details. Häuschen mit erleuchteten Fenstern drängeln sich windschief aneinander. Erker, Treppen, Türmchen in knalligen Farben: Pink, Türkis, Orange. Auf ihren Wimmelbildern gibt es viel zu entdecken: Windräder, Bäume, ein himmelblauer Badesee – und Vikis strahlendes Gesicht.
Viktoria Ludwig, so Vikis vollständiger Name, hat die Bilder aus ihrer Kunstmappe im Atelier des Klinikums Wahrendorff in Sehnde in der Region Hannover ausgebreitet. „Ich liebe Kunst“, sagt die 23-Jährige und breitet die Arme aus, als wolle sie die Welt umarmen. „Sie ist mein Ventil, sie bringt mich zum Nachdenken.“
Viki lebt im Heim der Wiedereingliederungshilfe für Menschen mit seelischen oder geistigen Behinderungen, das zu dem Klinikum gehört. Sie leide unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, erzählt sie, hält kurz inne und sprudelt weiter: Ihren Hauptschulabschluss habe sie gemacht trotz heftigem Mobbing. Ohne die Kunst, da ist sich Viki sicher, hätte sie das nicht geschafft.
Künstlerisches Engagement fördert die mentale Gesundheit
Dass es sich positiv auf die Psyche auswirkt, wenn man kreativ und künstlerisch aktiv ist, bestätigt die Weltgesundheitsorganisation WHO. Ende 2019 stellte sie eine Studie vor, die mehr als 900 Veröffentlichungen weltweit zum Thema auswertete. Zentrales Ergebnis: Künstlerisches Engagement fördert die mentale Gesundheit und kann Menschen mit psychischen Erkrankungen helfen.
Künstlerin Annette Lechelt leitet seit 25 Jahren die Kunstwerkstatt in Wahrendorff. Fröhlich und bunt geht es hier zu. Es duftet nach Kaffee, Lechelts Mischlingshündin „Tilda“ flitzt umher, Wellensittiche zwitschern in einer Voliere. Überall stehen Bilder und Skulpturen: Porträts, Stillleben, fliegende Schweine, ein Hannover-96-Stadion aus Pappmaché. Viele der von den Bewohnern gefertigten Gemälde schmücken das Klinikum, hängen in Fluren und Besprechungsräumen.
„Ich bin keine Therapeutin“, sagt Lechelt, „aber die therapeutische Wirkung steht für mich außer Frage“. Es gehe darum, Neues auszuprobieren, Blockaden abzubauen, „einen eigenen Strich“ zu finden. „Da öffnet sich was, der Blick auf das Leben verändert sich“, sagt die Frau mit dem farbbeklecksten Kittel und der Blume im Haar.
Anregung von Selbstheilungsprozessen
Davon ist auch der Wahrendorff-Geschäftsführer Matthias Wilkening überzeugt. Künstlerische Aktivitäten ermöglichten einen guten Zugang in der Behandlung von psychischen Leiden, sagt der Psychiater. „Selbstwertgefühl und Selbstakzeptanz können aufgebaut werden und zu einem höheren Maß an Wohlbefinden, Sozialisierung und Widerstandsfähigkeit führen.“ Auch der Deutsche Fachverband für Kunst- und Gestaltungstherapie in Berlin unterstreicht, Selbstheilungsprozesse könnten durch Kunst angeregt werden.
Kunst sei ehrlich, sie stärke die Ich-Kräfte, sagt Kunsttherapeutin Kristina Lucan. Die Menschen könnten ihre Gefühle bildlich ausdrücken, lernten mit Frust umzugehen, mutig zu sein. „Die Seele spricht in Bildern.“
Ebenso wie bildende Kunst hat auch Musik Heilkräfte auf die Seele, davon ist Ergotherapeutin Inken Unruh-Opiola überzeugt: „Rhythmen ordnen das innerliche Chaos.“ Grübeleien würden unterbrochen, die Menschen fühlten sich aufgehoben. Unruh-Opiola, die im Zentrum für Transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie für Menschen mit Migrationshintergrund in Wahrendorff arbeitet, absolviert zurzeit eine musiktherapeutische Fortbildung.
Insgesamt acht Kunst- und zwei Musiktherapeutinnen und -therapeuten sind in Wahrendorff tätig. Dazu kommen rund 20 Mitarbeitende, die kreative Anregungen gestalten. Diese Angebote sind fest in der klinischen Versorgung verankert, nicht aber in der ambulanten. Lucan und Unruh-Opiola bedauern das. Nonverbale Behandlungen wie diese sollten für mehr Menschen zugänglich und von den Krankenkassen bezahlt werden, sagt Lucan. „Diese Therapien wirken, wo anderes versagt.“
Möglichkeit zur Selbstreflexion
Für Peer Martin, der unter einer paranoiden Schizophrenie leidet und seit 26 Jahren im Klinikum lebt, ist Kunst eine Möglichkeit, „mich selbst zu reflektieren“, wie er sagt. Der 60-Jährige schreibt. Mit Kugelschreiber. Seite über Seite. Die Bögen stapeln sich vor ihm. Es gehe um Soziologie und Politik, sagt er, „um die Gesellschaft, mit der ich im Dissens lebe.“ Annette Lechelt hat kleine Häuser aus dem beschriebenem Papier hergestellt. Martin betrachtet die Bastelwerke wohlwollend.
Melissa Pietzko hat sich derweil mit einer Karaffe Chai-Tee in eine Nische der Kunstwerkstatt zurückgezogen. Seit acht Jahren schreibt die 26-Jährige, die unter Depressionen leidet, an ihrem Fantasyroman „Die goldene Axt“. 200 Seiten sind fertig. Pietzko ist eine „Externe“, sie wohnt außerhalb des Klinikums, kommt nur zur Therapiesitzungen rein. Heute zeichnet sie Illustrationen für ihr Buch. „Wenn ich schreibe und zeichne, tauche ich ab, wie in einem Rausch“, sagt sie. Alles andere sei dann ausgeblendet. „Das tut mir gut.“ Julia Pennigsdorf (epd)