Das Phänomen Greta und der Autismus

Greta Thunberg im August 2018. Foto: wikipedia commons/ Anders Hellberg

Greta Thunberg hat es nicht nur geschafft, weltweit Tausende Schüler für den Klimaschutz zu mobilisieren. Sie hat nebenbei auch der Entwicklungsstörung Autismus neue Aufmerksamkeit verliehen – und so das Selbstbewusstsein von Autisten gestärkt. 

„Meine ärztliche Diagnose ist eine Hilfe. Sonst hätte ich wohl einfach so weiter gelebt wie viele andere Menschen”, antwortete die junge Klimaaktivistin Greta Thunberg selbstbewusst einem Reprter des „Spiegel” auf die Frage, ob es kein Hindernis für sie sei, mit dem Asperger-Syndrom zu leben. Das Asperger-Syndrom ist eine Form des Autismus*. 

Auf ihrem Twitterprofil stellt sie sich vor als „15-jährige Klimaaktivistin mit Asperger”.  Sie ist die ältere von zwei Töchtern der Opernsängerin Malena Ernman und des Schauspielers Svante Thunberg. Nach eigenen Angaben erfuhr Greta in der Schule im Alter von acht Jahren erstmals von der menschengemachten Erderwärmung. Ihren Eltern zufolge habe Sie jahrelang Essstörungen gehabt und sei depressiv wegen des Klimawandels gewesen, so Spiegel-online in einem Interview mit Greta Thunberg. Ihre Bekanntheit habe ihr Leben komplett verändert, sagte die Aktivistin selbst dazu im Interview. „Vorher aß ich jeden Tag immer dasselbe: Brot, Reis, Bohnen, das Nötigste. Ich sprach nur mit meinen Eltern, meiner Schwester und meinem Lehrer; mit anderen hatte ich keinen sozialen Kontakt. Aber durch den Streik habe ich einen Sinn gefunden. Ich esse jetzt alles Mögliche, so lange es vegan ist. Und ich habe hier Freunde gefunden. Meine Eltern sehen, dass ich viel fröhlicher bin. Ich habe mich selbst geheilt.” I

hr Engagement für den Klimaschutz begann sie zunächst damit, zur Energieeinsparung im Haus die Beleuchtung auszuschalten. Später beschloss sie, nicht mehr zu fliegen und sich vegan zu ernähren, und überzeugte auch ihre Familie davon.  Ihr Klimaaktivismus begann während der Dürre- und Hitzewelle 2018:  Am 20. August 2018, dem ersten Schultag nach den Ferien, platzierte sie sich – schulstreikend – mit einem Schild mit der Aufschrift „Skolstrejk för klimatet“ („Schulstreik für das Klima“) vor dem Schwedischen Reichstag in Stockholm, drei Wochen lang täglich.

Berliner Autist findet Greta „cool”

Linus Müller aus Berlin findet die 16-jährige Schwedin „cool”. Ihr Engagement zeige, worin die Stärken von Asperger-Autisten liegen können: „Autisten denken rational und mögen keine Widersprüche zwischen Reden und Handeln. Wenn so viel über die Ursachen der Klimaproblematik bekannt ist, ist es unlogisch, dass nichts unternommen wird, um sie zu lösen.” Auch die Beharrlichkeit, mit der Greta protestiere, sei eine typische Stärke autistischer Menschen, sagt der 37-Jährige, der selbst Autist ist. 

Seit 2007 betreibt Müller die Website „Autismus-Kultur. Glücklich leben im Autismus-Spektrum”. Gestartet ist er mit dem Ziel, aktuelle Forschungsergebnisse und autistische Erfahrungen zusammenzubringen und einen verständlichen Praxis-Ratgeber zu gestalten. „Ich wollte Vorurteilen begegnen und endlich den Stärken autistischer Menschen Raum geben, den defizitären Blick auf uns entkräften”, sagt er. 

Bei vielen Asperger-Autisten bleibe ihre Wesensart lange unerkannt oder werde erst im Erwachsenenalter diagnostiziert. Das war auch bei Linus Müller so. „Bis ich zehn Jahre alt war, habe ich gar nicht gemerkt, dass ich anders war. Ich war zwar schüchtern und still, aber kein Außenseiter”, erzählt er.  Nach dem Wechsel auf das Gymnasium änderte sich allerdings etwas. „Ich habe zu niemanden einen Draht bekommen, alle haben sich plötzlich für Dinge interessiert, die mich nicht angesprochen haben: Hits und Pop-Stars, Mode oder die Zeitschrift „Bravo”.  „Das war ich nicht”, erzählt Linus Müller. „Ich war anders, aber warum, das konnte ich nicht richtig greifen.” Am liebsten sei er alleine im Wald gewesen oder habe sich mit Umweltthemen beschäftigt. 

Erst im Studium stieß er auf das Thema Autismus

Erst als Müller nach Berlin zog, um Afrikawissenschaften und Genderstudies zu studieren, begann er sich mit dem Thema Autismus auseinanderzusetzen. Eher zufällig stolperte er über die Autobiografien von autistischen Autoren und konnte sich mit ihren Schilderungen identifizieren. Besorgt darüber, dass er in Berlin keine sozialen Kontakte aufbauen konnte, suchte er eine Selbsthilfegruppe und schließlich einen Spezialisten auf. 

Heute führt er kein außergewöhnliches Leben: Er ist Vater, lebt in einer festen Beziehung und betreut als selbstständiger Webmaster Internetseiten. Dennoch ist sein Alltag nicht immer einfach: „Alle Interaktionen sind für mich herausfordernd, ich muss mir viel Mühe geben, normal zu wirken. Wie anstrengend das für mich ist, das merkt keiner.” 

Es sei schwierig, autistisch zu sein in einer nicht autistischen Welt, sagt Müller. So sei die klassische Arbeitswelt für ihn einfach hoffnungslos ungeeignet. Er könne sich nicht fokussieren, wenn es laut sei oder er bei der Arbeit oft unterbrochen werde. “Das Home-Office ist für mich eine gute Lösung, und mit der Plattform ‘Autismus-Kultur’ will ich anderen Autistinnen und Autisten und ihren Familien helfen, glücklich mit dieser Wesensart zu leben.”    (epd/rd)

 

 

* Stichwort Autismus:

  • Die Bezeichnung Autismus leitet sich vom griechischen Wort “autos” ab, es bedeutet “selbst”. Für die vielen Ausprägungen des Autismus-Spektrums greift es allerdings zu kurz, Autismus gleichzusetzen mit Selbstbezogenheit im Sinne eines Abkapselns von der Umwelt.
  • Es werden verschiedene Arten unterschieden, wie frühkindlicher Autismus, das Asperger-Syndrom und atypischer Autismus. Da immer häufiger leichtere Formen dieser Arten diagnostiziert werden, wird heute auch der Oberbegriff Autismus-Spektrums-Störung verwendet. 
  • Autismus wird heute dem Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus zufolge als eine komplexe und vielfältige neurologische Entwicklungsstörung beschrieben. Wissenschaftler beschreiben Autismus auch als andersartige Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung im Gehirn der Betroffenen. Das wirkt sich auch auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltens aus.
  • Genaue Zahlen der in Deutschland betroffenen Menschen liegen nicht vor. Untersuchungen aus Europa, Kanada und den USA lassen allerdings vermuten, dass sechs bis sieben von 1.000 Menschen mit Autismus-Spektrums-Störungen leben. 
  • In den 1930er und 40er Jahren wurde Autismus erstmals wissenschaftlich von Leo Kanner und Hans Asperger erörtert. Sie beschrieben verschiedene Ausprägungen von Autismus, schilderten aber beide Beeinträchtigungen bei Sozialverhalten und Empathiefähigkeit. Als Merkmale vieler Autismen gelten heute beispielsweise eine Fixierung auf bestimmte Rituale und Interessen, die Schwierigkeit, soziale und emotionale Signale von Mitmenschen zu deuten und darauf zu reagieren.
  • Nach Erkenntnissen des israelischen Hirnforschers Henry Markram und seiner Frau Kamila liegt eine Art Überfunktion im Gehirn vor, und die Zellen reagieren viel stärker auf Reize als bei Durchschnittsmenschen. Autisten haben demnach intensivere Wahrnehmungsfähigkeiten. Um sich vor den vielen Reizen und einer Überforderung zu schützen, ziehen sich Markram zufolge viele Autisten in ihre eigene Welt mit ihren eigenen Ritualen zurück.  (epd)