- – Die ukrainische Psychologin Olga Farina lebt heute in Kiel und hilft Geflüchteten –
Über Odessa, der quirligen Hafenstadt am Schwarzen Meer, lag im März 2022 eine Wolke der Angst: Es gab Gerüchte, dass die russischen Truppen hier die nächste Offensive starten und die Stadt angreifen würden, ähnlich wie im rund 600 Kilometer entfernten Mariupol. „Es war gefährlich, ich hatte Angst – und ich wollte meine Mutter aus der Stadt herausbringen“, berichtet Olga Farina. Die Psychologin schaffte die Flucht. Heute lebt sie in Kiel, wo sie für die Brücke Schleswig-Holstein arbeitet und andere Geflüchtete psychologisch betreut.
In Odessa arbeitete sie in einem Reha-Zentrum für Kinder mit Behinderungen
In ihrer alten Heimat Odessa war Farina in einem Reha-Zentrum für Kinder mit geistigen und psychischen Behinderungen tätig. „Aber es wurde immer gefährlicher, wir konnten es nicht mehr verantworten, die Kinder dorthin zu holen“, sagt die 40-Jährige. Zudem sei es kaum möglich zu arbeiten, wenn im Hintergrund Bomben fielen. „Es braucht Sicherheit, damit man helfen kann.“ Dennoch hätte die Bedrohung durch den Angriffskrieg auch zu einem tiefen Gemeinschaftsgefühl und damit zu einer psychischen Stabilisierung geführt: „Alle helfen sich gegenseitig, jeder steht für die anderen ein – das ist keine Standradsatz“, sagt Farina.
Als sie nach Deutschland kam, hielt sie anfangs per Internet Kontakt zu den Kindern aus dem Reha-Zentrum. „Wir waren jeden Montag online, haben uns ausgetauscht.“ Doch im Lauf der Zeit reisten immer mehr der Kinder mit ihren Familien aus, heute seien sie in alle Länder verstreut. „Ich habe mir dann andere Aufgaben gesucht“, sagt die Psychologin.
Alle Dokumente und etwas Sprachkenntnisse waren vorhanden
Kurz nach ihrer Ankunft in Kiel suchte sie sich Arbeit – für Menschen, die aus der Ukraine vertrieben worden sind, gelten andere Regeln als für diejenigen, die aus anderen Regionen der Welt geflohen sind und die meist lange warten müssen, bevor sich der Arbeitsmarkt für sie öffnet. In Farinas Fall kam hinzu, dass sie eine international anerkannte Ausbildung hat: „Meine Dokumente waren alle in Ordnung, und ein bisschen Sprachkenntnisse sind auch vorhanden. Ich musste also nicht herumsitzen und warten“, berichtet sie.
Über das Jobcenter kam sie zur Brücke Schleswig-Holstein, die gerade Angebote für ukrainische Vertriebene aufbaute. Die Psychologin fing beim Psychosozialen Zentrum für Geflüchtete, kurz PSZ, an. In einem ersten Projekt ging Olga Farina als Selbstständige der sogenannten mobilen Ersthilfe in die Gemeinschaftsunterkünfte, in denen viele Geflüchtete als erstes unterkommen. Nach wenigen Monaten erhielt sie eine Festanstellung im PSZ. Seither ist sie in den Offenen Treffs in Preetz und Plön tätig und berät Geflüchtete aus der Ukraine. Denn sie spricht – buchstäblich wie im übertragenen Sinn – ihre Sprache.
„Nicht jeder kann mit Übersetzern arbeiten”
„Es gibt nicht viele, die mit den Betroffenen in der Muttersprache reden können, und nicht jeder kann mit Übersetzern arbeiten“, sagt Olga Farina.Die Themen in den Beratungen sind vielfältig. Es geht um die Alltagssorgen der meist weiblichen Geflüchteten, die sich allein mit ihren Kindern im fremden Land zurechtfinden müssen. Um Stress und Streit mit den Kindern, die aus ihrem Leben gerissen wurden und die Erwachsenen dafür verantwortlich machen. „Viele haben den großen Wunsch, nach Hause zu gehen, zurück in ihr komfortables Leben. Aber weil ihre Heimat okkupiert oder zerstört ist, müssen sie nun hier ein neues Leben aufbauen – das hatten sie nicht geplant.“ Dazu kommen die Ängste um Verwandte, die im Kriegsgebiet zurückgeblieben sind. Und die Trauer, wenn ein vertrauter Mensch stirbt. „Das eigene Leben wird auf den Kopf gestellt, alle Fragen nach Werten und Zielen stellen sich neu“, beschreibt die Psychologin. Auf die Frage, was die Menschen am dringendsten brauchen, um in der neuen Heimat anzukommen, sagt die Psychologin: „Eine Wohnung.“ In der Bedürfnispyramide steht der Wunsch nach einem sicheren Heim weit oben.
Sie selbst habe eine gute Wohnung in Kiel gefunden und tankt Kraft im Austausch mit einer Gruppe ukrainischer Kolleginnen und Kollegen, die sich online treffen. Sie ist, fürs erste, angekommen. Ihre Mutter allerdings traf eine andere Entscheidung: Ein Jahr nach der Flucht, im März dieses Jahres, brachte Olga Farina die 70-Jährige zurück nach Odessa. „Für meine Mama war es ein Nachhausekommen. Dieses Gefühl hatte ich nicht.“ Esther Geißlinger
(Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 4/23)