Das große Versprechen

Seit Jahren versuchen Pharmafirmen, neue Medikamente gegen Alzheimer auf den Markt zu bringen. Doch die Hinweise mehren sich, dass die gesamte Branche in einer Sackgasse steckt. Einige Konzerne investieren trotzdem weiter. Über ein Geschäft mit der Hoffnung – und die Angst vor dem großen Vergessen. Ein Meinungsbeitrag von Cornelia Stolze*.

„Durchbruch in der Alzheimer-Forschung!“, „Forscher heilen Alzheimer!“, „Jetzt könnte im Kampf gegen den geistigen Verfall der Durchbruch gelungen sein“ – wer die Erfolgsmeldungen der Medien über längere Zeit verfolgt hat, könnte glauben, die Welt sei längst von Demenz befreit. Immerhin waren die hier zitierten Titelzeilen schon vor Jahren zu lesen. Sie stammen aus der BILD-Zeitung, der Netzeitung und der ZEIT. 

Indes – der oft verkündete Durchbruch ist weit und breit nicht zu sehen. Zwar haben Unternehmen wie Pfizer, Eli Lilly, AstraZeneca, Novartis, Merck & Co (MSD) in den vergangenen Jahrzehnten Milliarden von Euro in die Entwicklung neuer Alzheimer-Medikamente investiert. Allein zwischen 2002 und 2012 führten sie weltweit mehr als 400 klinische Studien mit 244 Testmedikamenten an Tausenden von Patienten und Gesunden durch. 

Doch Projekt um Projekt wurde gestoppt, weil die Substanzen keinen Effekt bewirkten und/oder die Nebenwirkungen zu groß waren. Allein im vergangenen Jahr sind innerhalb weniger Monate drei größere Alzheimer-Projekte gescheitert. Im Februar beendete der US-Konzern MSD eine Studie mit seinem Wirkstoffkandidaten Verubecestat. Mitte Mai musste Johnson & Johnson (J&J) die Arbeiten an seinem Hoffnungsträger Atabecestat wegen gravierender Neben- wirkungen einstellen. Im Juni traf es den britischen Konzern AstraZeneca und seinen US-Partner Eli Lilly: Man habe sich entschieden, die klinische Studie mit dem Wirkstoff Lanabecestat nicht fortzusetzen, hieß es, nachdem ein unabhängiges Prüfkomitee zu dem Schluss gekommen war, dass es keine Aussicht auf Erfolg mehr gebe. 

2018 erklärte Pfizer seinen Ausstieg aus der Alzheimerforschung

Den wohl schwersten Schock versetzte der US-Konzern Pfizer allen Hoffenden bereits kurz zuvor: Im Januar 2018 hatte der Branchenführer offiziell mitgeteilt, ab sofort aus der Alzheimerforschung auszusteigen. 

Pfizer, ausgerechnet. Kein anderes Unternehmen hat so lange so viel Geld in diesen Bereich investiert. Und seit langem gilt als ausgemacht: Ein Medikament, das den Verlauf der Demenz bremsen oder stoppen kann, wäre einer der größten Blockbuster, die es je gab. Analysten schätzen den weltweiten Markt auf mindestens 20 Milliarden Dollar im Jahr. Und darauf will Pfizer verzichten? Der Konzern begnügt sich mit einer knappen Begründung: Wiederholte Rückschläge hätten gezeigt, dass man nicht die Fortschritte mache, die es für die Entwicklung wirksamer Therapien bräuchte.

Vieles spricht jedoch dafür, dass hinter dem Rückzug von Pfizer das Eingeständnis eines jahrzehntelangen Irrwegs steckt. Es geht um die Frage, was wirklich die Ursache der geistigen Umnachtung von Millionen älteren Menschen ist – und was nicht. 

Forscherinnen sind weltweit fieberhaft auf der Suche nach Substanzen, die gegen Alzheimer wirken. Foto: pixabay

Es geht um die Frage, ob es je eine Pille gegen Vergesslichkeit und Verwirrtheit geben wird. Und es geht um die Frage, wie glaubwürdig die Aussagen führender Fachleute in diesem Bereich der Medizin sind. 

Für die Deutsche Alzheimer Gesellschaft zum Beispiel gilt es als ausgemacht, dass die geistige Umnachtung vieler älterer Menschen vor allem eine Ursache hat: die Alzheimer-Krankheit. Hervorgerufen von bestimmten Proteinablagerungen im Gehirn, sogenannten Amyloid-Plaques.

Die Sache mit den Amyloid-Plaques

Einer der renommiertesten Vertreter dieser Theorie ist der Biologe Christian Haass von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Seit mehr als 20 Jahren gehört er zur internationalen Forscher-Elite auf diesem Gebiet. Christian Haass ist Sprecher des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), hat eine Vielzahl von hochrangigen Auszeichnungen erhalten, darunter das Bundesverdienstkreuz am Bande, den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den International Alois Alzheimer Award. Kürzlich kam der „weltweit bedeutendste Preis für Hirnforschung“ hinzu, so die LMU: der mit einer Million Euro dotierte Brain Prize 2018 der Lundbeck Foundation in Dänemark. Zusammen mit drei weiteren Neurowissen-schaftlern habe Haass „das Verständnis der Veränderungen im Gehirn, die zu Alzheimer und ähnlichen Demenzerkrankungen führen, revolutioniert“. 

Und nicht nur das. Haass macht die Öffentlichkeit auch glauben, dass eine Rettung vor Demenz längst möglich sei. Bestimmte Antikörper gegen die Plaques im Gehirn, verkündete er 2016 in einem Interview, würden die Demenz aufhalten, wenn man sie nur früh genug einsetze.  Bewiesen ist das bis heute nicht. Anfang 2018 schwärmte Haass in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung von einer Art Impfung, mit der sich die Plaques im Gehirn beseitigen lassen sollen. Das Verfahren wurde bereits an Menschen erprobt. Ohne Erfolg. Zwar waren die Plaques weg, aber der Gedächtnisverlust der Patienten setzte sich fort. 

Andere Experimente endeten sogar im Desaster. Vor mehreren Jahren testete die Firma Eli Lilly an Patienten einen Wirkstoff namens Semagecestat. Durch das Mittel, einen sogenannten Gamma-Sekretase-Hemmer, sollte die Bildung von Amyloid im Gehirn unterdrückt werden. Die Substanz erwies sich nicht nur als nutzlos, sondern als katastrophal. Etliche der Probanden bekamen Hauttumoren, Infektionen und Magen-Darm-Probleme, und das Gedächtnis wurde noch schlechter, weil es den Betroffenen immer schlechter ging. Die Studie musste abgebrochen werden. Eine spätere Untersuchung zeigte, dass es möglicherweise sogar Todesfälle durch Semagecestat gab. 

Nach all den Fehlschlägen wächst die Skepsis. Immer mehr Wissenschaftler gehen inzwischen davon aus, dass sich die Pharmafirmen mit ihren Produktentwicklungen gegen die Amyloid-Ablagerungen in der Sackgasse befinden. Fest steht, dass an der Amyloid-Theorie vieles hinten und vorne nicht passt. „Wir wissen seit Langem, dass die Menge der Amyloid-Plaques im Gehirn kaum mit dem Krankheitsbild oder der geistigen Leistung korreliert“, sagt Christian Behl, Direktor des Instituts für Pathobiochemie der Universität Mainz. 

Warum die Nonnenstudie so verblüffte

So haben Studien gezeigt, dass rund ein Drittel aller normal alternden Menschen große Mengen von Amyloid-Plaques im Gehirn aufweist – ohne Anzeichen einer Demenz. Eine der Untersuchungen ging in die Medizingeschichte ein: die 2001 veröffentlichte Nonnen-Studie des US-Epidemiologen David Snowdon. Ihm war es gelungen, 678 Ordensschwestern im Alter von 75 bis 106 Jahren für ein ungewöhnliches Projekt zu gewinnen. Sie willigten ein, dass Forscher nach ihrem Tod ihre Gehirne entnehmen und auf krankhafte Veränderungen untersuchen durften. Das Ergebnis war verblüffend: Auch Frauen, in deren Hirngewebe sich große Mengen von Amyloidplaques fanden, hatten zu Lebzeiten keine Demenzsymptome aufgewiesen. Tatsächlich erwies sich die vermeintlich „charakteristische Alzheimer-Pathologie“ im Gehirn als völlig unabhängig von der wiederholt erhobenen intellektuellen Leistungsfähigkeit derselben Person zu Lebzeiten. Seither sind viele Jahre vergangen – und selbst der Vater der Amyloid-Hypothese, der Genetiker John Hardy vom University College in London, bekennt neuerdings, dass die lange verbreitete Behauptung „je mehr Amyloid, desto schlimmer die Demenz“ nicht mehr haltbar sei. 

Dennoch halten Haass und andere namhafte Alzheimer-Forscher an ihrer Theorie fest. Seine aktuelle Version: Amyloid rufe nicht direkt Alzheimer hervor, sei aber ein „ganz wesentlicher Faktor“. Denn es gebe den Anstoß dazu, dass sogenannte Tau-Proteine den Zelltod auslösen. Alzheimer sei schon Jahre vor dem Ausbruch an erhöhten Tau-Mengen in der Rückenmarksflüssigkeit erkennbar, so der Forscher. Der Mainzer Biochemiker Behl dagegen sagt: „Veränderungen von Tau kommen auch bei anderen Erkrankungen des Nervensystems vor – und bei älteren Menschen, die nicht an Demenz leiden.“

Doch woran leiden die vielen verwirrten, vergesslichen Patienten dann? Aufschlussreiche Informationen dazu liefern epidemiologische Studien. Mindestens 65.000 der jährlich 300.000 neu diagnostizierten Demenzen in Deutschland gehen allein auf irreparable Hirnschäden durch Schlaganfälle zurück. 30.000 bis 75.000 sind die Folge von Funktionsstörungen des Gehirns durch jahrelangen Alkoholmissbrauch. Hinzu kommen Zigtausende von Patienten, bei denen es infolge von Unfällen, Hirnblutungen, Herzinfarkt, Bluthochdruck, Operationen oder Diabetes erst zum Verlust von Hirnzellen und dann – zum Teil Jahre später – zu kognitiven Störungen kommt. 

Die beste Strategie gegen Demenz ist ein gesunder Lebensstil

Das aber heißt: Die beste Strategie gegen Demenz ist ein gesunder Lebensstil. Vor allem regelmäßige Bewegung, nicht rauchen, Alkohol in Maßen, Übergewicht vermeiden, so wenig Medikamente wie möglich, ein gutes soziales Netz. All das nämlich minimiert das Risiko für Schäden an Hirnzellen durch Bluthochdruck, Diabetes, Herzinfarkt und Schlaganfälle – und reduziert damit auch die Gefahr einer Demenz. Die Hoffnung auf eine Pille gegen Vergesslichkeit und Verwirrtheit dagegen ist eine Illusion. Kein Medikament der Welt kann abgestorbene Hirnzellen wieder zum Leben erwecken. 

Diese Erkenntnis kann auch klugen Köpfen an Universitäten und in Pharmafirmen nicht verborgen geblieben sein. Doch die beteiligten Mediziner, Forscher und Manager haben ein Problem. Mit Appellen zu Prävention und gesundem Lebensstil lässt sich kein Geld verdienen. Und sie haben alles auf eine Karte gesetzt. Ihre Karriere, ihre Fördermittel, ihr Renommee – all das hängt von der Amyloid-Hypothese ab. Erweist sie sich als Irrweg, droht nicht nur ein Verlust von Ansehen und Macht. Es geht auch um das eigene Lebenswerk und um Investitionen, die man ungern verloren gibt. 

Arzneimittelfirmen wie Biogen, Novartis und Roche haben noch rund 85 Substanzen gegen Demenz im Rennen, die sich in klinischen Studien befinden. Fast alle Präparate richten sich gegen das Eiweiß Amyloid. 

Der Erfolg der Konzerne ist eng mit dem von Alzheimer-Forschern wie Christian Haass verknüpft. Neben seinem Job als Professor stand er immer wieder in den Diensten von Firmen wie Hoffmann-La Roche, die er gegen Honorar beraten hat, und unterhielt Kooperationen mit Konzernen wie AstraZeneca und Novartis. Im Register des Europäischen Patentamts taucht er zudem bei 15 Patenten als Erfinder auf. Sie alle drehen sich um Alzheimer und Erkrankungen des Nervensystems. Für sieben davon hat Boehringer Ingelheim den Antrag gestellt. 

„Wahrscheinlich haben viele Alzheimerforscher längst realisiert, dass ihre Hypothese nicht überzeugend ist“, so der Bioethiker Jonathan Kimmelman von der McGill Universität in Montreal. „Aber sie haben kein anderes Pferd im Rennen, auf das sie setzen könnten.“

Um die bislang erfolglosen Testsubstanzen doch noch als Medikament gegen Alzheimer auf den Markt zu bringen, haben sich Alzheimer-Forscher wie Haass inzwischen eine modifizierte Version der Amyloid-Theorie zurechtgelegt: Der Grund für das jahrelange Scheitern aller klinischen Studien liege nicht darin, dass man auf der falschen Fährte sei und die getesteten Wirkstoffe nutzlos und schädlich sind. Vielmehr habe man bisher nur nicht früh genug mit der Behandlung begonnen. Die Alzheimer-Krankheit würde nämlich schon 20 bis 30 Jahre vor dem Auftreten der ersten Symptome entstehen. Dann aber, wenn Gedächtnisstörungen und Verwirrtheit aufträten, sei der Schaden schon groß und kaum noch etwas zu retten. Wer Alzheimer erfolgreich bekämpfen wolle, müsse schon Jahre, bevor irgendwelche Anzeichen von Vergesslichkeit aufgetaucht sind, mit der Therapie beginnen. 

Wirkstofftests an Menschen ohne Symptome

Tatsächlich probieren mehrere Pharmafirmen ihre Wirkstoffkandidaten inzwischen an Menschen aus, die noch gar keine Symptome haben. Normalerweise würde das ein massives Problem nach sich ziehen: Um herauszufinden, ob die jeweilige Testsubstanz einen Großteil der Probanden vor Demenz schützt oder nicht, müsste man die Probanden über einen langen Zeitraum hinweg untersuchen, behandeln, warten und beobachten, wer von ihnen Symptome entwickelt und wer nicht. Das allerdings würde Jahrzehnte dauern, wäre aufwändig und viel zu teuer.

Um Zeit und Kosten zu sparen, greifen die Firmen deshalb zu einem Trick. In den klinischen Studien prüfen die beteiligten Mediziner nur, ob das Mittel bestimmte Messwerte im Körper – sogenannte Biomarker oder Surrogatmarker – verändert. Erscheint der Verlauf der Messwerte gut, gilt die Behandlung als Erfolg.

Die Zulassung von Medikamenten auf Basis von Surrogatmarkern ist weit verbreitet. Dabei führen sie oft in die Irre – so wie im Falle des Diabetesmittels Avandia: Das senkte zwar einen wichtigen Blutzuckerwert, verursachte aber bei Zehntausenden Patienten einen Herzinfarkt, mehrere Hundert starben. 2010 musste der Hersteller GlaxoSmithKline es vom Markt nehmen. Zu ähnlichen Fehlschlüssen haben Surrogatmarker auch bei der Bewertung diverser Mittel gegen Krebs, Herzrhythmusstörungen oder Osteoporose geführt.

Doch je mehr klinische Studien, desto mehr Daten – und desto größer die Chance, dass irgendeiner Substanz zumindest eine kleine Wirkung bescheinigt werden kann, und sei es nur „aus Zufall“, sagt der Bioethiker Kimmelman. Hauptsache, man könne Arzneimittelbehörden wie die amerikanische FDA oder die europäische EMA vom vermeintlichen Nutzen eines neuen Mittels überzeugen. 

Gelingt dieser Schritt, braucht es nur noch etwas Marketing – und schon gewinnen Pharmafirmen Millionen verängstigte und verzweifelte Menschen als Kunden, die auf ein Mittel gegen das Vergessen warten. Es winkt ein enormes Geschäft: Je mehr Menschen die Medikamente schlucken, möglichst früh und möglichst lange – desto lukrativer.                       Cornelia Stolze

*(Der Artikel erschien in der EPPENDORFER-Printausgabe 2/2019. Cornelia Stolze ist Biologin und Wissenschaftsjournalistin mit Schwerpunkt Demenz und hat dazu u.a. zwei viel beachtete Sachbücher veröffentlicht („Vergiss Alzheimer“, Kiepenheuer & Witsch 2011; „Verdacht Demenz“, Herder 2016).