Der parlamentarische Untersuchungsausschuss, der sich im Landtag von Sachsen-Anhalt mit der Aufarbeitung des Anschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt befasst, wird rund zwei Millionen Seiten zu sichten haben – aufgeteilt auf mindestens 5000 Aktenordner, meldete der MDR. Die Recherche wird bis ins Jahr 2006 zurückreichen, als Taleb A. zum ersten mal deutschen Boden betrat. Dass dieser im Maßregelvollzug der Salus Klinik Bernburg trotz massiv auffälligen Verhaltens seit 2020 und bis zuletzt als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie arbeiten konnte, gehört zu den Mysterien dieses unglaublichen Falles. Die zwischenzeitlich erfolgte Freistellung des Ärztlichen Direktors der Salus Klinik wurde inzwischen wieder aufgehoben. Laut einem Bericht der “Magdeburger Volksstimme” haben die Salus und der Direktor im Anschluss das Arbeitsverhältnis beendet.
Es war vielleicht die letzte Möglichkeit, den Anschlag mit sechs Toten und fast 300 Verletzten – die alle im Prozess als Nebenkläger auftreten könnten – zu verhindern: Am 3. August 2024 (gegen 9 Uhr) erkundigten sich laut Mitteilung der Salus Klinik zwei Mitarbeitende der Station bei Taleb A. nach seinem Befinden, da dieser zuvor mehrere Wochen krankgeschrieben war. Taleb A. habe ihren Angaben zufolge die Frage, ob es ihm wieder bessergehe, mit dem Satz beantwortet: „Nein, ich befinde mich in einem Krieg, aber nicht im metaphorischen Sinn, sondern in einem wirklichen Krieg, dessen Ausgang entweder sterben oder umbringen sein wird.“ Er habe danach niedergeschlagen das Dienstzimmer verlassen.
Ein erfahrener Psychologe meldete diesen Vorfall – und auch der Ärztliche Direktor wurde informiert. Der führte denn auch mit Taleb A. ein „Krankenrückkehrgespräch“, in dem dieser „keine Anzeichen einer Selbst- oder Fremdgefährdung erkennen ließ“, so die Klinik. „Das angeführte Zitat ist nicht wiederholt worden. Taleb A. zeigte sich aber deutlich besorgt, weil er Aktivitäten des saudi-arabischen Geheimdienstes gegen sich vermutete“. Damit hatte sich der Vorfall für die Leitung des Maßregelvollzugs erledigt, obwohl Taleb A. seit 2023 „durch häufige Krankmeldungen aufgefallen“ sei.
Der Fall Taleb A. macht deutlich, dass in Deutschland viele Bausteine nicht zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden. Sage und schreibe 100 Vorfälle mit dem Attentäter hatten Behörden dokumentiert, Stellen in sechs Bundesländern waren laut Innenministerium mit Taleb A. beschäftigt. Es ging darin um Menschenhandel, Beleidigung und Drohungen. 2013 drohte er z.B. in einem Telefonat mit der Ärztekammer mit einem Anschlag von „internationaler Beachtung“ und verwies auf das Boston-Attentat. Grund für seine Attacke: Die Behörde hatte ihn nicht zur Facharztprüfung zugelassen, da erforderliche Dokumente fehlten. Darunter: der Nachweis einer Approbation als Arzt. Das Amtsgericht Rostock verurteilte ihn wegen der Androhung von Straftaten zu 90 Tagessätzen – kurz unter der Grenze einer Vorstrafe. Ein Jahr später wurde er ähnlich auffällig. Diesmal begnügte man sich mit einer „Gefährderansprache“.
Wegen Androhung von Straftaten zu 90 Tagessätzen verurteilt
Nach Hinweisen aus Saudi-Arabien war auch der Verfassungsschutz involviert – neben dem Bundeskriminalamt und verschiedenen Landeskriminalämtern. Ernst genommen wurde Taleb A. von den Behörden aber weiter nicht. Mitte 2015 kündigte er an, sich eine Pistole zu kaufen und zwei Richter zu erschießen. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt. So ging es über Jahre weiter – keine Behörde fühlte sich angesprochen, unternahm wirklich etwas. Selbst als er auf einem Portal des Bundesinnenministeriums pöbelte „Etwas Großes wird in Deutschland passieren“ und „Deutschland wird den Preis zahlen müssen. Einen hohen Preis“ endeten Ermittlungsverfahren im Nirwana.
So schaffte es Taleb A. schließlich zur Anstellung in Bernburg – obwohl er in seinem Lebenslauf falsche Angaben machte. So dementierte das Hamburger UKE, dass er dort als Arzt in Weiterbildung gearbeitet habe. Er hätte nur unentgeldlich hospitiert – und sei mit aggres-
sivem Verhalten aufgefallen. Das Ausbildungsverhältnis wurde beendet.
Bis Ende 2025 sind 20 Sitzungstermine geplant. Laut MDR werden voraussichtlich mehr als 100 ZeugInnen befragt. Ergebnisse sollen noch vor der nächsten Landtagswahl im Sommer 2026 vorliegen.
Michael Freitag