Psychiaterin
und Patientin

Geht offen mit ihrer bipolaren Störung um und will in ihrem Buch darüber aufklären und entstigmatisieren: Dr. Astrid Freisen. Foto: Sebastian Knoth

Dr. Astrid Freisen ist Psychiaterin – und leidet selbst unter einer psychischen Erkrankung. Jetzt hat sie ein Buch darüber geschrieben. Sie will aufklären und entstigmatisieren. Sie arbeitet heute  in einem Krankenhaus in Island. „Die Arbeitsbedingungen für mich sind deutlich besser als in Deutschland“, sagt die promovierte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. „Es wird besser aufeinander aufgepasst, auch unter Kollegen.“ Das ist in ihrem Fall wichtiger als für andere: Die 44-Jährige hat Multiple Sklerose und eine bipolare Störung.

Ein Geheimnis ist das jetzt nicht mehr. Bei ihrer Bewerbung als Oberärztin in Reykjavík ging sie offen mit ihrer Diagnose um, außerdem hat sie gerade ein Buch darüber geschrieben: „Wir fliegen hoch, wir fallen tief“ (Eden Books, 256 Seiten, 18,95 Euro). Sie möchte ihre persönlichen Erfahrungen teilen und aufklären – gerade angesichts ihrer Doppelrolle: „Es ist wichtig, das Schweigen zu brechen“.

Bipolar gestört meint das Schwanken zwischen Depressionen und Manien in unterschiedlichen Ausprägungen. Die Krankheit verläuft in Episoden, deren Länge individuell sehr unterschiedlich ist. Aktuell geht man davon aus, dass etwa drei Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Die meisten Betroffenen haben dabei deutlich mehr depressive als manische Phasen. „Trotzdem umweht die Bipolarität oft eine romantische Aura als Erkrankung der Kreativen“, schreibt Freisen – dabei starben manche von ihnen durch Suizid: Studien zeigen, dass bis zu 50 Prozent der Betroffenen mindestens einen Suizidversuch begehen, bis zu 25 Prozent töten demnach sich selbst.

Seit 2005 arbeitet sie in der Psychiatrie, 2006 bekam sie ihre Diagnose

Seit 2005 arbeitet Freisen in der Psychiatrie, 2006 bekommt sie ihre Diagnose. „Die hab ich erstmal komplett ignoriert“, sagt sie heute. Dabei gibt es in ihrer Familie mehrere Fälle bipolarer Erkrankungen, wie ihr mit der Zeit klar wird. Depressionen hatte sie schon im Studium, doch ihre erste „richtige Manie“ erst 2010. Sie geht fremd, rast mit über 200 Sachen über die Autobahn. „Ich schlief immer weniger, rauchte immer mehr, trank zu viel Alkohol. Ich war ständig in Bewegung, ununterbrochen im Kontakt mit anderen Menschen. Pausen waren langweilig, dafür war meine innere Energie viel zu stark.“ 

Erst nach dieser Manie kann sie ihre Diagnose annehmen. Zugleich „schämt“ sie sich sehr, die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben. „So richtig habe ich mir das immer noch nicht verziehen, obwohl ich ja weiß, dass die fehlende Krankheitseinsicht das Hauptproblem in der Manie ist.“ Dank ihrer Medikamente und eines stabilen Umfeldes blieb das bisher die einzige „echte Manie“, Hypomanien oder Phasen größerer Getriebenheit kennt sie aber durchaus. „Ich musste mich danach langsam selbst aufbauen. Das hat Jahre gedauert.“

2014 gründet sie die AG „Selbst Betroffene Profis” mit

2014 mitbegründet sie auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS) die Arbeitsgruppe „Selbst Betroffene Profis“, zu der etwa 60 Menschen gehören. Sie gibt Raum für kollegialen Austausch. „Obwohl Studien überdeutlich zeigen, dass psychische Erkrankungen unter Ärzten überrepräsentiert sind, wird dieses Thema ausgeklammert“, heißt es bei der DGBS. Zu beherrschend ist immer noch das Bild vom Halbgott in Weiß. Betroffene stigmatisieren sich zunächst oft selbst, sagt Freisen, fragen sich, ob sie mit einer bipolaren Störung überhaupt in der Medizin arbeiten können: „Erst einmal muss Selbstakzeptanz da sein“. Ihre eigene Erfahrung mit dem Outing am Arbeitsplatz ist aber positiv, auch von Seiten der Patienten. Es ist ein Vorteil, dass sie psychische Erkrankungen auch aus eigenem Erleben kennt.

Heute leitet sie ein Team, das für die Betreuung von sechs bis zehn Patienten mit affektiven Störungen zuständig ist, auf einer Aufnahmestation. „Die Arbeit ist fordernd, innerhalb kürzester Zeit müssen Begleiterkrankungen ausgeschlossen, medikamentöse Behandlungen begonnen und die ambulante Weiterbehandlung geplant werden.“ Da es in Island nur sehr wenige psychiatrische Klinikbetten gibt, sind die Liegedauern kurz. 

„Ich muss gut für mich sorgen und aufpassen, den Stress in einem vertretbaren Rahmen zu halten“, sagt Freisen im Gespräch über Zoom. Aufgrund ihrer Erkrankungen macht sie keine Nacht- und Wochenenddienste und um 16 Uhr Feierabend. Wie es weitergeht? „Ich habe keine Karriereziele. Aber ich werde immer eine Frau sein, die mehr will, rastlos ist, etwas Neues probieren muss.“ Jan Zier (Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 3/23)