Aus dem Nachlass von Oliver Sacks

Auf Arte erinnert jetzt die Doku "Oliver Sacks – Sein Leben" an den berühmten Neurologen, der sich überall Notizen gemacht hat. © Lowell Handler Foto: WDR

„Du bist ein Greuel! Ich wünschte, du wärest nie geboren!“  Mit diesen Worten verflucht die Mutter ihren Sohn, den damals achtzehnjährigen Oliver Sacks, als sie von seiner Homosexualität erfährt.

Gibt es eine größere Entwertung, eine tiefere Demütigung, als wenn eine Mutter ihrem eigenen Kind die Existenzberechtigung abspricht? Und noch 10 Jahre später, Anfang der sechziger Jahre  (Sacks ist jetzt bereits Assistenzarzt und auf dem Weg, einer der international bedeutendsten Neurologen zu werden), leidet er – sicherlich in der Folge dieser traumatischen Erfahrung –  unter der „Abwesenheit eines Gefühls von tiefer Verbindung…., was (ihn) in eine suicidale Abhängigkeit von Amphetaminen (treibt)“ (New York Times vom 14.8.2015).

“Fahrkarte für die ganze Welt”

Was Oliver Sacks aus dieser existenziellen Krise rettet, ist seine Liebe zur Natur und seine Liebe zu den Menschen. Schon als Jugendlicher ist er Dauergast in Bibliotheken und Museen. Im „Natural History Museum“ lässt er sich heimlich einschließen und verbringt dort „eine verzauberte Nacht“. Er fühlt sich als „virtueller Naturforscher“ , als „imaginärer Reisender“, der eine „Fahrkarte für die ganze Welt“ hat. 

Doch auch für die lebendige Natur hegt er eine tiefe Leidenschaft. Er liebt die schönsten der wirbellosen Tiere: Tintenfische, Sepien und Oktopoden. Von den Pflanzen haben es ihm Ginkgo und v.a. Farne angetan. Letztere gelten als unglaublich robuste Wesen, die „unweigerlich die ersten Pflanzen sind, die beispielsweise auf einem neuen Lavafeld wachsen“ und denen „der Tod nicht eingebaut ist“. 

Ein Meister der Dokumentation

Oliver Sacks schaut nicht auf das „Schwache“, das „Kranke“, das „ Behinderte“, er schaut auf die Kräfte und die tiefen Mächte, die in der Natur und den Menschen liegen, egal wie verrückt oder seltsam sie daherkommen.

Zeit seines Lebens hat er geforscht, gelehrt, behandelt und geschrieben. Er muss ein Meister der Dokumentation gewesen sein, denn schon als Siebenundzwanzigjähriger, als er vollkommen mittellos in San Francisco ankommt und noch mehrere Monate auf seine Greencard warten muss, macht er sich „mit nichts als einem Schlafsack und einem Dutzend Notizbücher“ auf den Weg, um das Land zu erkunden. 

Im Laufe der folgenden fast fünfzig Jahre schreibt er mehr als 20 Bücher, im Zentrum immer seine Patienten und deren (Leidens-) Geschichten, die unter seiner Feder oft zu Geschichten über bizarre und sehr besondere Seinsformen geraten. Und – wie sollte es auch anders für einen Neurologen sein – der Fokus seiner Forschung und Wahrnehmung liegt immer im Gehirn:

Eine winzige Hirnverletzung, ein kleiner Tumult in der zerebralen Chemie – und wir geraten in eine andere Welt. 

Oliver Sacks

Sacks große Begabung liegt zweifellos in der Verbindung seiner neurologisch – analytischen Wissenschaftlichkeit und seiner ebenso großen poetischen Erzählkunst. Dies macht seine Bücher so leicht und so spannend zu lesen. Ein Kollege – der russische Neuropychologe Lurija – nannte ihn einen „romantischen Wissenschaftler“.

Erste Lieben und letzte Fälle

In diesem letzten Werk nun  – das erst 2019, vier Jahre nach Sacks Tod, erschien – haben die Weggefährten seiner letzten Jahre „erste Lieben“ und „letzte Fälle“ des großen Neurologen zusammengetragen. Die „ersten Lieben“ sind sicher den meisten Lesern nicht bekannt, die „letzten Fälle“ hingegen sind größten Teils schon vor oft langen Jahren veröffentlicht worden, hier insbesondere seine Arbeiten über das Tourette-Syndrom, über Halluzinationen und Träume, über Demenz und Zwänge etc.

Obwohl schon zweifach andernorts veröffentlicht, ist das Kapitel über „Die verlorenen Tugenden der Heilanstalten“ unbedingt lesenswert – insbesondere für alle Psychiatriearbeiter. 

Unter Rückgriff auf die Geschichte der psychiatrischen Kliniken, die im 4. Jahrhundert n.Chr. begann (als Klöster und Kirchen zu Verwahrstätten für „Geisteskranke“ wurden), bis in die heutige Zeit, die von sehr viel Fortschritt, aber auch von  ebenso vielen Verlusten geprägt ist, beschreibt und benennt Sacks in deutlichster Weise die Situation der Psychiatrie:

Die Millionen psychisch Kranken bleiben in unserer heutigen Gesellschaft die Menschen mit den wenigsten Rechten und der erbarmungslosesten Ausgrenzung.

Oliver Sacks

Und doch gibt es auch Erfahrungen – so Sacks – die zeigen, „dass Schizophrenie und andere psychische Erkrankungen sich nicht unaufhaltsam verschlechtern müssen und dass unter idealen Bedingungen und wenn genügend Ressourcen vorhanden sind, selbst extrem erkrankte Menschen, denen man eine „hoffnungslose“ Prognose gestellt hat, noch in die Lage versetzt werden können, ein befriedigendes und produktives Leben zu führen.“

Hierzu bräuchte es die Einsicht und Bereitschaft der Gesellschaft, den psychisch Kranken wirkliche Orte der Zuflucht und des Schutzes bereitzustellen, an denen sie Platz, Licht, Ruhe, Natur, gute Nahrung, die Möglichkeit zur Arbeit, Verlässlichkeit und v.a. Menschen hätten, die ihnen mit Akzeptanz und Wärme begegnen. Doch dorthin ist es noch ein weiter Weg.

Martina de Ridder

Aus: Eppendorfer 2/2020

Oliver Sacks: Alles an seinem Platz. Erste Lieben und letzte Fälle, Rowohlt 2019.

Auf Arte erinnert jetzt eine Doku an den berühmten Neurologen: “Oliver Sacks – Sein Leben” ist ab 24. März in der Mediathek und am 27. März um 22 Uhr auf Arte zu sehen.