Ab auf die Straße!

Straßensozialarbeiter Julien Thiele. Foto: Hinrichs

Die Zahl obdachloser Menschen in Hamburg hat sich innerhalb von zehn Jahren fast verdoppelt, die Zahl psychisch kranker Obdachloser nimmt offenbar massiv zu. Für das Caritas-Projekt „Straßenvisite“ wird dringend ein Psychiater bzw. eine Psychiaterin gesucht. Eindrücke von der Straße …

„Hallo, darf ich kurz stören? Ich bin Julien und arbeite für die Caritas, und wie heißen Sie? Frieren Sie? Haben Sie genug Decke? Wollen Sie nicht vielleicht in die Notunterkunft?“ Der Kopf einer Frau ragt nur zur Hälfte aus dem Schlafsack. Sie liegt unweit des Hauptbahnhofs in Hamburgs Fußgängerzone am Straßenrand und wirkt verschlafen. Nein, sie könne in keine Unterkunft, weil sie eine Meldeadresse hat. Aber ihre Wohnung könne sie nicht betreten, da sie Ärger mit ihren Mitbewohnern habe. Seit vier Monaten lebe sie daher auf der Straße. Julien nimmt sich vor, mit ihr zusammen zu einer Notunterkunft zu gehen und einen Schlafplatz zu vermitteln. Fürs erste verspricht er, ihr am Nachmittag einen weiteren Schlafsack vorbeizubringen. 

Julien Thiele ist 27, sehr schmal und sehr gut zu Fuß. Das muss er sein als Straßensozialarbeiter bei der Caritas, wo er für das Projekt Citymobil arbeitet, auch Straßenvisite genannt. Eigentlich sollte er mittwochs mit einem Psychiater zusammen losziehen, doch Richard Becker, der langjährige „Obdachlosenpsychiater“, musste sich aus Alters- und Krankheitsgründen zurückziehen. 

Es ist bitterkalt an diesem Mittag. Die Kälte hat in diesem Winter bereits mehrere Todesopfer gefordert. Thiele ist nicht der einzige Streetworker. Unterwegs treffen wir noch zwei Frauen von der Diakonie, die sich vor allem um Menschen aus Osteuropa kümmern, und auch die Drogenhilfe-Einrichtung Drob Inn schickt Streetworker los. 7 bis 8 Leute seien im Innenstadtbereich unterwegs, sagt Thiele. Was fehlt – und besonders schwer zu finden sei – , ist psychiatrische Unterstützung. Dringend gesucht werden Psychiater, vielleicht Pensionäre, die die Obdachlosenhilfe unterstützen. Speziell für das Projekt „Straßenvisite“ mit spendenfinanzierten Rundgängen und anschließenden zwei Stunden von der Sozialbehörde vergüteter Sprechstundentätigkeit. Aber eigentlich braucht es mehr, zumal die psychiatrischen Sprechstunden in fast allen Einrichtungen weggebrochen seien. Wünschenswert wäre, „wenn regelhaft Psychiater, die an eine Klinik angebunden sind, mit auf die Straße gehen würden und ein sinnvolles Stundenkontingent hätten”, hatte Richard Becker jüngst in einem Interview erklärt.

Wir haben den Eindruck, dass der Anteil psychisch Belasteter extrem zunimmt“, sagt Julien Thiele. Was weitere Probleme nach sich zieht: „Wir kriegen Menschen mit psychischen Problemen nicht in Gemeinschaftsunterkünfte.“ Was fehlt sind Einzelzimmer.  „Housing-First“, fordert er. Erstmal eine passende Unterkunft, dann Problembearbeitung. 

Es sind sehr kleine Erfolge, die diese Arbeit prägen, für die es vor allem langen Atem braucht. Früher seien eine Zeit lang vergleichsweise viele Einweisungen über den Sozialpsychiatrischen Dienst vorgenommen worden. Das Problem: Viele sind nach kürzester Zeit zurück auf der Straße. Drehtürpsychiatrie. 

Julien Thiele glaubt, dass man die Zahl der Obdachlosen um die Hälfte senken könnte. Was wird gebraucht? „Wir müssten verschiedene Facetten von Unterkünften schaffen“, meint er, vor allem Einzelzimmer, sei es in Containern. Und zwar ohne Bedingungen. Im Winternotprogramm gälten oft rigide Verbots-Kriterien.

Anders das Frauen-Containerprojekt, das der Caritasverband in Kooperation mit der Hochschule für angewandte Wissenschaften anbietet. Zehn obdachlose Frauen können dort einen kleinen Container bewohnen und erhalten gleichzeitig Beratung und Unterstützung durch Studierende der Hochschule. 

Hier konnten sie auch die über 80-jährige Schweizerin unterbringen. Psychotisch und dement konnte sie das Winternotprogramm gar nicht in Anspruch nehmen, weil sie es am Tag verlassen musste und nach einer Stunde nicht mehr wusste, wo sie gewesen war geschweige denn, wie sie zurückfinden sollte. Acht Monate blieb sie im Container, man brachte ihr Essen. Julien Thiele hat ihr Zimmer geputzt, ihre Wäsche gewaschen. Einen Arzt zu ihr gebracht. Irgendwann gelang eine Rückführung in die Schweiz. Thiele setzte sich mit ihr in die Bahn und übergab sie persönlich an Zuständige im Nachbarland.

Die Finanzierung über Spenden ermöglicht kreativere Wege. Thiele ist schon mit Klienten Socken kaufen gegangen und kann auch schon mal jemanden zum Essen einladen. Sein schönstes Erlebnis? Der Zugang zu einem Klienten, der lange jeden Kontakt ablehnte und am Hauptbahnhof auf dem Fußboden in der Sonne saß. „Ich habe mich dazu gesetzt und mit ihm über das Wetter gesprochen. Irgendwann sagte der Mann: Schön, dass sie hier sind, sie waren ja schonmal da.“ Es schloss sich ein längeres Gespräch an, an dessen Ende habe sich der Mann bedankt: Er sei das erste Mal menschlich wertgeschätzt worden.  

Aktionismus nütze wenig, die Motivation müsse von innen kommen. Für die Sozialarbeiter heißt das immer wieder neu Kontakt aufnehmen, reden, kleine Hilfen anbieten. Und aushalten. Den Stillstand und die Zeit, die es braucht, bis jemand bereit ist, Hilfe anzunehmen. Der alte Grieche, den Thiele jetzt anspricht, scheint noch nicht soweit. Er mag über 80 sein, liegt auf dem Boden, wirkt verwirrt und weiß nicht, ob er in Berlin oder Hamburg ist, zwischendurch weint er.   Hilfe will er keine, nur liegenbleiben. Aber der Kontakt ist hergestellt. Er wird ihn bald nochmal ansprechen, überlegt Thiele, und notfalls den Sozialpsychiatrischen Dienst einschalten. 

Julien Thiele kommt aus Sachsen und hat in Dresden Koch gelernt. Hat im Luxushotel gearbeitet, bevor er als Praktikant in der „Restaurantschule“ von TV-Koch Christian Rach zur Sozialarbeit fand. Die Straßensozialarbeit könne man ein paar Jahre machen, fürs ganze Leben sei das nichts. Aber er hat schon eine Idee für danach: „Man müsste Sozialarbeit mit Kochen verbinden.“ Es gebe viele obdachlose Köche.                                                   Anke Hinrichs  

(Originalveröffentlichung im EPPENDORFER  2 / 2019 / Printversion)

 

Zahl fast verdoppelt

Die Zahl der Obdachlosen, die in Hamburg auf der Straße leben, ist seit 2009 von 1029 auf 1910 Menschen um fast das doppelte gestiegen. Auch die Zahl der in öffentlich-rechtlicher Unterbringung und in Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege lebenden Menschen hat zugenommen und liegt jetzt bei 5210 Personen. Dies entspricht einer Steigerung von 78 Prozent im Vergleich zu 2009 (2924 Personen). Diese Zahlen gehen aus einer Befragung obdachloser und in öffentlich-rechtlicher Unterbringung wohnender Menschen hervor, die im März 2018 im Auftrag der Sozialbehörde durchgeführt wurde. Wegen organisatorischer Mängel bei der Befragung und teils bedenklich niedriger Teilnehmerquote geht die Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) von einer deutlich höheren Dunkelziffer als bei der letzten Befragung 2009 aus. Die Ergebnisse sollen im April im Rahmen eines Fachtags diskutiert werden. Weitere Eckdaten: Nur rund 30 Prozent bezogen Sozialleistungen oder Rente.  53 Prozent hatten keinen Krankenversicherungsschutz. Fast zwei Drittel der obdachlosen Menschen in Hamburg sind nicht-deutscher Staatsangehörigkeit, sie kommen vor allem aus Osteuropa. 70 Prozent gaben an, sie seien gekommen, um Arbeit zu suchen oder weil sie ein konkretes Jobangebot hatten. Vor diesem Hintergrund fordert die AGFW günstige Arbeitnehmerpensionen für Arbeitsmigranten. Weitere Forderung: Mindestens die Hälfte der jährlich freiwerdenden Wohnungen der SAGA – also etwa 4500 Wohnungen – sollten an vordringlich Wohnungssuchende vergeben werden, davon 2000 an wohnungslose Haushalte (mehr unter www.agfw-hamburg.de, Studie unter www.hamburg.de/).         (hin)