Ein Mann ist
„Ganz Ohr”

OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Das Leben schreibt die schönsten Geschichten. Heißt es. Aber oft genug auch die traurigsten. Christoph Busch hört sie alle. Er hat ein offenes Ohr für jede und jeden. Nämlich „Das Ohr“. Es misst rund acht Quadratmeter. Deutschlands erster Zuhör-Kiosk. Ein Platz zum Innehalten inmitten eines Durchgangsortes schlechthin.

Rechtes Gleis: ab mit der U2 nach Niendorf. Linkes Gleis: ab mit der U2 nach Mümmelmannsberg. Zwischen den Gleisen: ab nach innen. Und das seit drei Jahren. Christoph Busch hatte den damals vakanten Kiosk gepachtet, nur wenige Minuten von seiner Eimsbütteler Wohnung entfernt. Zunächst für sich selbst als ungewöhnliche Schreiblocation. „Ich schreibe am liebsten auswärts, oft in Cafés“, so der Drehbuchautor. Der Plan: Das Leben beobachten, mit U-Bahn-Wartenden ins Gespräch kommen, Stoff für Storys sammeln. Doch es kam anders: Schon während der Renovierung schauten Passanten vorbei, als er ein Zuhör-Schild aufgehängt hatte. „Was machen Sie aus dem Kiosk?“ Busch erzählte. Die Leute wurden neugierig. Und erzählten ihrerseits.

Hunderte haben das Gespräch mit ihm bereits gesucht

Anfang 2018 setzt er sich in Kiosk – und ad hoc ging es los. Der Gesprächsbedarf sprengte alle Erwartungen. Seither suchen die Menschen den Zuhörkiosk auf. Jede Altersgruppe, jedes Milieu, Frauen und Männer. Hunderte von Hamburgern haben das Gespräch mit Christoph Busch bereits gesucht. „Ich weiß nie, wer in meinen Kiosk hereinkommt“, sagt der Mann mit dem offenen Ohr. „Heutzutage hört einem ja keiner mehr zu“, zitiert er eine Standardbemerkung von Besuchern. Dabei kommen die meisten nicht spontan. Sie nehmen beim Warten auf die U-Bahn erst einmal unauffällig Witterung auf. Schüren wie beiläufig um den Kiosk. Christoph Busch macht es ihnen leicht. Er bestückt die Auslage, wo früher Süßkram, Zeitungen und Zigaretten lagen, mit unterschiedlichsten Accessoires, von alten Schwarzweiß-Fotos über Stofftiere bis hin zu Nippes aller Art. Es gibt also immer etwas zu schauen. Und en passant merkt man sich die Telefonnummer, die Mail-Adresse oder greift sich einen Flyer. Gesprächstermine werden meist telefonisch abgestimmt.

„Ich bin ein fremder Freund”

Ob kaputte Beziehung, familiäres Pflegedrama, Lebensplanung oder Isolation:  Meist geht um persönlichste Themen. Keiner muss mit etwas hinterm Berg halten. „Ich bin ein fremder Freund“, beschreibt Busch seine Rolle. Seine Erfahrung: Fast immer führen die Spuren gegenwärtigen Kummers in die Kindheit. „Ich habe den Eindruck, dass ab dem Mittzwanziger- bis Dreißigeralter für den Rest des Lebens Kindheitsthemen eine bestimmende Wirkung haben. Eine bis eineinhalb Stunden dauert ein Gespräch. „Ich lasse die Erfahrungen und Gefühle anderer Menschen an mich heran und lasse mich auf sie ein. „Ich helfe ihnen dabei, Abstand zu gewinnen. Ein intensives Gespräch kann vielen mildern“. Er ist weder Psychologe noch Therapeut. Oft empfiehlt er seinen Besuchern, die eigenen Gedanken aufzuschreiben, sich konsequent Notizen zu machen. Ein Ratschlag, der gemeinhin gut ankommt. 

„Anfangs saß ich täglich sechs Stunden lang im Kiosk“, erinnert er sich – auch für einen leidenschaftlichen Zuhörer einfach zu viel.  Mittlerweile hat sich Zahl der Ohren vervielfacht: Busch hat den Verein Zuhörkiosk gegründet. Rund 15 Mitglieder, die einander abwechseln. Während der Zeiten des Corona-Lockdowns versuchte es Busch mit digitalen Video- oder telefonischen Gesprächsangeboten, auch mit Gesprächs-Spaziergängen – die Resonanz blieb mager. Der Kiosk in der U-Bahnstation Emilienstraße ist eben nicht zu ersetzen. 

Das Kioskprinzip macht Schule

Buschs Kioskprinzip macht Schule. „Ich habe sogar schon Franchise-Nachfragen bekommen“, schmunzelt er. „Ist natürlich Unsinn, jeder kann jedem sein Ohr leihen.“ Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Beispielsweise in Berlin: Eine pensionierte Lehrerin und ein pensionierter Lehrer haben in Kreuzberg „Wir hören zu, kommen Sie rein“ ins Leben gerufen, ein Gesprächsangebot nach Hamburger Vorbild. Weiteres Beispiel: Eine Hamburgerin bietet mobiles Zuhören unter dem Motto „Frei setzen“ an: „Ihre Idee: Sie sitzt auf einer Parkbank, stellt ein Ohr-Symbol auf. Jeder kann sie ansprechen und sich zu ihr setzen“, freut sich Busch über die Verbreitung der Idee.

Michael Göttsche

Aktuelle Infos: www.zuhör-kiosk.de

(Aus: der EPPENDORFER-Printausgabe 4/21)