Der frühere „Spiegel“-Reporter Claas Relotius hat zweieinhalb Jahre nach Bekanntwerden des Betrugsskandals bei dem Nachrichtenmagazin erstmals ausführlich in einem Interview über seine gefälschten Texte gesprochen. Gegenüber der Zeitschrift „Reportagen“ aus der Schweiz berichtete er auch über seine Therapie. Chefredakteur Daniel Puntas Bernet und die Reporterin Margrit Sprecher konnten für das höchst lesenswerte Interview mit dem behandelnden Psychiater und Therapeuten sprechen und Einsicht in psychiatrische Berichte erhalten.
Auf die Frage, wie viele seiner insgesamt 120 verfassten Texte in seiner Journalistenzeit korrekt waren, sagte Relotius: „Nach allem, was ich heute über mich weiß, wahrscheinlich die allerwenigsten.“ Als freier Reporter schrieb Claas Relotius zwischen 2013 und 2016 fünf Texte für das Reportagen-Magazin. Gleich mit der ersten Geschichte über demente Häftlinge in den USA gewann er den renommierten Deutschen Reporterpreis für die beste deutschsprachige Reportage des Jahres.
Monatelange stationäre Therapie
Fünf Jahre später, Ende 2018, machte der Spiegel den Betrugsfall im eigenen Haus öffentlich. Relotius war damals 33 Jahre alt und fest beim grössten Nachrichtenmagazin Deutschlands angestellt. Dort hatte er Fakten, Personen und Zitate erfunden und sogar Geschichte ganz ausgedacht. In dem Buch „Tausend Zeilen Lüge: Das System Relotius und der deutsche Journalismus” hatte der einstige Kollege Juan Moreno beschrieben, wie er den Skandal gegen viele Widerstände aufdeckte. Die Produktionsfirma Ufa Fiction will auf der Grundlage des Buches einen Film drehen. Claas Relotius befand sich nach der Aufdeckung für mehrere Monate in stationärer psychiatrischer Behandlung. Nach zwei Monaten in der Universitätspsychiatrie Hamburg-Eppendorf wechselte er für sechs weitere Monate in eine weiter entfernt liegende Klinik, schreiben die Interviewautorinnen.
Psychiater spricht von psychosenahen Zuständen
Laut psychiatrischer Diagnostik erlebe Relotius „dissoziative, psychosenahe und auch psychotische Zustände”, schreiben die Interviewer. Der auf dem Gebiet psychotischer Störungen erfahrene Psychiater, bei dem Relotius seit zwei Jahren in Behandlung sei, sage, dieser habe nicht mehr zwischen Innenwelt und Aussenwelt unterscheiden können und zur Bewältigung des gedanklichen Zerfalls „eine in sich geschlossene, scheinbar logisch aufeinander aufbauende Welt konstruiert, die es nicht gab.“
Relotius selbst erklärt in dem Gespräch: Er habe sich „mit jedem Text das Gefühl gegeben, meinen Verstand im Griff zu haben.“ Das „hemmungslose Schreiben“ habe für ihn „eine ganz egoistische Funktion. Es hat mir geholfen, Zustände, in denen ich den Bezug zur Realität verloren habe, zu bewältigen, zu kontrollieren und von mir fernzuhalten. Schon lange vor dem Journalismus“, so Relotius rückblickend. Er habe diesen Beruf auf eine Art von Anfang an „missbraucht“. Er könne sich das nicht erklären, aber er habe „jahrelang nie Angst, nie Zweifel, auch nie ein schlechtes Gewissen“ gehabt: „Je größer meine Verunsicherung war, desto perfekter wurden die Texte“, so Relotius.
(hin)
(Was Martina de Ridder nach Erscheinen des Buches von Juan Moreno im EPPENDORFER 1/20 über das Buch und über die Lüge schrieb, können Sie hier nachlesen.)