Katharina Nagel weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, auf Hilfe angewiesen zu sein: Ihr Sohn leidet an Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. „Bei uns war es furchtbar“, erinnert sich die Mitarbeiterin der Universität Hamburg an den Beginn, „wie nach einem Erdbeben, wenn nichts mehr wie vorher ist und alles wieder neu aufzubauen ist“.
Als Angehörige müsse man gestärkt werden, um das Leben wieder in den Griff zu bekommen – sie entschloss sich, für andere Betroffene aktiv zu werden: Von 2015 bis 2016 absolvierte Katharina Nagel die zertifizierte EX-IN-Ausbildung für Angehörige an der Bildungsakademie an der Uni-Klinik Hamburg. Seit 2017 moderiert sie im „Alstertreff“ des Rauhen Hauses eine offene Angehörigengruppe, die erste Angehörigenbegleitung im Rauhen Haus. Ob Eltern, Partner, Söhne oder Töchter – jeder kann hier eine adäquate Unterstützung finden.
Die Teilnehmerzahl schwankt zwischen drei und 18. „Ich weiß vorher nie, wer zum Treffen erscheint“, sagt sie. Mancher schaut nur einmal vorbei, andere sind von Beginn an dabei. Katharina Nagel schlägt jeweils ein Thema vor, oft angelehnt an die Psychoseseminare der Universität Hamburg. „,Schuld‘ ist beispielsweise ein großes Thema“, sagt sie.
Die Diagnosen der psychisch Erkrankten reichen von Depression und bipolaren Störungen über Borderline und Psychosen bis hin zur Altersdemenz. „Dabei spielt die jeweilige Erkrankung nicht die entscheidende Rolle. Die Gefühle gleichen sich unabhängig vom Krankheitsbild: Verzweiflung, Hilflosigkeit, Wut, Trauer. Ich versuche moderierend herauszubekommen, was beim Einzelnen am meisten brennt.“
Letztlich ist es ihr Ziel, den Angehörigen wieder einen Weg zu einem schöneren, glücklicheren Leben zu ebnen und die Angehörigen dazu zu bringen, ihren Fokus nicht mehr ausschließlich auf die Erkrankten, sondern auch auf sich selbst zu richten. Katharina Nagel will die Angehörigen stärken, damit sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen.
Oft geht es um Themen wie „Wie geht der Rest der Familie mit der Situation um?“, „Was ist mit meiner Wut?“, „Wo bleibe ich?“. „Manchmal besprechen wir auch eine aktuelle Situation oder ich lade einen Gast aus der Betroffenenperspektive ein“, so Katharina Nagel. Spannend seien die verschiedenen Herangehensweisen und der Austausch untereinander. „So individuell die Erkrankung ist, so individuell ist auch der Umgang des Einzelnen damit. Der Austausch ermöglicht es den Angehörigen, ihre eigene Sichtweise zu reflektieren, von den anderen zu lernen und vor allem auch zu erfahren: Ich bin nicht allein. Eine Teilnehmerin sagte am Ende eines Treffens: ,Ich fühle mich viel leichter, auch wenn das Problem weiter besteht.‘ Wenn ich so etwas höre, dann denke und fühle ich einfach nur: ,Bingo!‘“
Ist die Problematik zu komplex für ein Gruppentreffen, bietet Katharina Nagel auch Einzelgespräche an. Allein schon die Erfahrung, dass es anderen ähnlich oder noch schlechter geht, könne eine entlastende Wirkung für die Teilnehmer haben.
Als Angehörigenbegleiterin hört sie natürlich viel Erschreckendes – sie muss ein Gleichgewicht zwischen Empathie und Distanz finden. „Am wichtigsten ist es, authentisch zu bleiben“, sagt sie. Die monatliche Supervision am UKE sei für die Bewältigung eine große Hilfe.
Angehörige psychisch Kranker sollen mit einbezogen werden in die Therapie, deren Perspektive ist von großer Bedeutung für die Psychiatrie – soweit die offizielle Theorie. „Aber in manchen Bereichen ist das bis heute überhaupt nicht der Fall“, bedauert Katharina Nagel. Sie engagiert sich auf vielfältige Weise, nimmt regelmäßig an Fortbildungen teil, wird als Referentin zu Tagungen und Workshops eingeladen und arbeitet an Forschungsprojekten mit.
Die Angehörigenbegleitung des Rauhen Hauses in Hamburg findet an jedem zweiten und vierten Montag eines Monats von 17 bis 18.30 Uhr im Alstertreff, Alsterdorfer Straße 530, statt – nun auch wieder persönlich mit Anmeldung, da nur fünf Gäste teilnehmen können: Aufgrund der Kontaktrestriktionen im Rahmen der Corona-Krise waren Treffen nur digital via WebEx Zoom und WebPics möglich. „Aber diese Umstellung war für die Angehörigen unproblematisch. Es klappte wunderbar, auch die Einzelgespräche“, so Katharina Nagel. Michael Göttsche