Jüngste Gerichtsurteile und entsprechend angepasste Gesetze sollten Zwang und Gewalt in der Psychiatrie reduzieren. Vertreter von Kliniken, Sozialpsychiatrischem Dienst und vom Amtsgericht Oldenburg in Ostholstein wiesen gegenüber dem EPPENDORFER auf gegenteilige Entwicklungen hin: Gewalt und Zwang nähmen zu. Von einem drastischen Anstieg gewalttätiger Vorfälle wurde aus Hamburg berichtet. In der Asklepios Klinik Nord habe sich nach Senatsangaben die Zahl gewalttätiger Vorfälle, bei denen Personal angegriffen oder bedroht wurde, innerhalb eines Jahres mehr als verdreifacht.
Lange Verfahrensdauern sowie die Trennung der Verfahren zur Unterbringung und zur Behandlung ziehen teils wochen- oder gar monatelange Zeiten, in denen Patienten nicht medikamentös behandelt werden, nach sich. „Wir sind alle bemüht, Zwang zu vermeiden“, so Dr. Holger Jahn, Ärztlicher Direktor des AMEOS Klinikums Heiligenhafen. „Wenn er doch nötig wird, sollte er so kurz und effizient wie möglich erfolgen“, erklärt der Psychiater. Doch das werde aktuell gesetzlich erschwert: „Wir müssen so lange warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist“, kritisiert er. Und dann müsse jetzt teils länger zwangsbehandelt werden als eigentlich nötig.
Problem: Überwachung von Fixierungen
Konkret warnten führende Ameos-Klinikdirektoren jüngst auch vor der geplanten Reform des Gesetzes über die Unterbringung psychisch Kranker in Schleswig-Holstein. Diese könne zu eine weiteren Verschärfung der Personalsituation führen. Speziell geht es dabei um die Umsetzung eines Bundesverfassungsgerichts-Urteils von 2018, wonach Patienten, die fixiert werden, durch geschultes Krankenhauspersonal „engmaschig“ überwacht werden sollen. Das Kieler Sozialministerium wolle dies noch verschärfen: Es solle „zu jedem Zeitpunkt“ eine „Betreuung durch unmittelbaren Sicht- und Sprechkontakt durch geschultes Krankenhauspersonal“ sichergestellt werden müssen. Und dabei solle der Einsatz von „technischen Hilfsmitteln“ verboten sein, berichteten die Lübecker Nachrichten. AMEOS-Krankenhausdirektor Andreas Tüting warnte gegenüber der Zeitung: „Unter den derzeitigen Bedingungen des Fachkräfte- und Pflegepersonalmangels ist es schlichtweg unmöglich, den durch diese Regelung entstehenden erhöhten Personalbedarf zu decken.“ Das gelte umso mehr, als die Finanzierung dieser Kräfte durch die Krankenkassen völlig ungeklärt sei.
Damit werde viel Personal gebunden, das woanders fehle, warnte im Gespräch mit dem EPPENDORFER auch der Ärztliche Direktor des AMEOS Klinikums in Neustadt, Jörn Conell. 95 Prozent der Patienten erhielten dadurch weniger Zuwendung, das betreffe eher die Stillen, bei denen die Suizidgefährdung besonders hoch sei. Er sieht aktuell die sozialpsychiatrischen Errungenschaften von Jahrzehnten bedroht. „Wir müssen gegebenenfalls wieder Lösungen finden, wie eine Pflegekraft mehrere Fixierte beaufsichtigt.“
Auch die Mitarbeiter leiden …
Doch nicht nur die Patienten würden unter der ganzen Situation leiden. Auch die ohnehin immer schwerer zu rekrutierenden Mitarbeiter. Sie zeigten auf der einen Seite ein hohes Engagement, sich in Fortbildungen, etwa in Deeskalation, zu qualifizieren, um Zwangsmaßnahmen wo möglich zu vermeiden. Zugleich erlebten sie eine Zunahme von Zwang wegen der geschilderten Folgen der Gesetzeslage. So sei die Situation für Mitarbeiter besonders schmerzlich, da man doch inhaltlich eigentlich auf Linie mit dem Bundesverfassungsgericht liege. Zugleich nehme die Gewalt auch gegen Mitarbeiter zu. Es gebe Mitarbeiter, die nicht mehr bereit seien, in der Akutpsychiatrie zu arbeiten.
Spürbare Zunahme im UKE
Von einer spürbaren Zunahme von Drohungen und Übergriffen sprach jüngst etwa auch das UKE, ohne aber genaue Zahlen zu haben. Noch werden solche Vorfälle nicht überall systematisch erfasst. Genau dokumentiert werden sie indes in der Asklepios Klinik Nord, wie durch die Senatsantwort auf eine kleine Anfrage öffentlich wurde. 2017 wurden hier noch 32 gewalttätige Fälle dokumentiert, 2018 bereits 101 und allein im ersten Halbjahr 2019 schon 82. Dies sei vor allem auf die Psychiatrie zurückzuführen, so ein Asklepios Sprecher gegenüber dem Hamburger Abendblatt. Zum einen sei die Anzahl der richterlich verfügten Zwangseinweisungen in den letzten Jahren konstant gestiegen. Darüber hinaus werde bei diesen Patienten „eine Medikation gegen deren Willen von den Richtern erst nach frühestens zwei Wochen genehmigt, sodass wir vermehrt hochakute Patienten haben, welche nicht hinreichend mediziert sind oder werden dürfen”, sagte er der Zeitung.
Was die Sozialpsychiatrie besonders umtreibe, sei die Entwicklung zur Zwei-Klassenpsychiatrie, macht Prof. Dr. Jörn Conell, Ärztlicher Direktor des AMEOS Klinikums in Neustadt/Holstein deutlich. Er kritisiert, „dass die schwerst Erkrankten hinten runterfallen, während die leichter Erkrankten und besser Versicherten in Privatkliniken gehen.“
Zwei Fallbeispiele
Dr. Holger Jahn, Ärztlicher Direktor des AMEOS Klinikums Heiligenhafen, macht die schwierige Lage anhand des folgenden Fallbeispiels deutlich: Eine manische Patientin mit Behandlungsvereinbarung, in der festgelegt ist, mit welchen Medikamenten sie im Fall einer Krise behandelt werden will, wird wegen eines aggressiven Vorfalls von der Polizei in die Psychiatrie gebracht. Vor den Augen des Richters zerreißt sie die Behandlungsvereinbarung, wird für insgesamt vier Monate untergebracht. Drei davon vergehen unbehandelt mit Warten auf Gutachten und richterliche Anordnung. Die Frau wird in dieser Zeit zu einer schweren Belastung für die Mitpatienten. So zieht sie sich nackt aus und legt sich zu Männern ins Bett. Nach Entlassung schämt sie sich und erwägt, die Klinik zu verklagen.
Einen anderen Fall aus Ostholstein beschreibt – mit Blick auf die Auswirkungen auf die Gemeinde – der Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes Ostholstein, Klaus Petzold: Ein chronisch-schizophrener Patient, den er seit 20 Jahren kennt, der – auf niedriger Dosis – medikamentös gut eingestellt war, setzt die Medikamente ganz ab, dekompensiert und ist nicht auf freiwilliger Basis zugänglich. Nach einem halben Jahr folgt eine Zwangseinweisung. Nach vierwöchiger – unbehandelter – Klinikzeit wirkt er ungefährlich, wird entlassen und in seinem Mietshaus weiter zur Belastung. Er bedroht Nachbarn, kommt nach weiteren drei Monaten wieder in die Klinik, wird nun mehrere Monate behandelt, bis zur Stabilisierung vergeht ein ganzes Jahr. Inzwischen ist die Wohnung weg. Dem Vermieter, der den Mann mitsamt seiner Auffälligkeiten früher – notfalls mit Intervention durch den SpDi – auch über Krisenzeiten geduldet hat, wurde es nun zu bunt: Er kündigte die Wohnung. (hin)
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