Der Zahlendieb –
Leben mit Zwang

Ein Kopf voller Zahlen – Oliver Sechting auf dem Plakat des Films „Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben“ . Foto: Rosa von Praunheim Filmproduktion

Ist die Tür abgeschlossen, war auch das Bügeleisen aus? Die meisten Menschen kennen solche quälenden Gedanken, die sich beim Verlassen der Wohnung einstellen. Wer dies nicht nur einmal überprüft, sondern vorsichtshalber ein zweites oder drittes Mal nachsieht, handelt bereits zwanghaft. Zu einer Erkrankung wächst sich dieses Verhalten aber nur aus, wenn es den Alltag des Betroffenen und sein Umfeld wirklich beeinträchtigt. Dabei kann nahezu jede Tätigkeit zwanghaft verändert werden, vom Hände waschen über das Berühren bestimmter Gegenstände bis hin zur Verwendung von Zahlen. Das ist die Methode, die Autor Oliver Sechting für sich entwickelt hat.

Der Sozialpädagoge, Industriekaufmann und Filmschaffende hat Zahlen in ein, auch von ihm selbst kaum zu entschlüsselndes, System von Gut und Böse eingeteilt. Bestimmten Zahlen spricht er die Fähigkeit zu, neutralisierend zu wirken, sie halten seine zahlreichen Ängste wenigstens teilweise in Schach. Als Jugendlicher ist Sechting allerdings von derart vielen Ängsten geplagt, dass er sein Zwangssystem ständig ausbauen muss. Er schluckt sogar Diamanten aus der Schmuckschatulle seiner Mutter, sucht Zahlen auf Autoschildern und kontrolliert Türschlösser in unablässiger Folge.

In seiner Autobiografie „Der Zahlendieb” beschreibt der Autor detailliert wie er sich mit Hilfe der Zwangshandlungen durch sein Leben larviert, das von Depressionen und Panikattacken geprägt ist. Für den Leser ist es mitunter quälend mitzuerleben, wie sich der junge Mann selbst kasteit und an seinen Ängsten fast zu Grunde geht, aber sich dennoch niemandem offenbart. Der frühe Verlust des Vaters und die Krankheit der Mutter sind schockierende Erlebnisse für den Jungen, die sein schwach entwickeltes Vertrauen in die Welt weiter untergraben. Seine eigentlich bereits als Kind erkannte Homosexualität, verheimlicht der Autor ein ganzes Jahrzehnt vor anderen und damit auch vor sich selbst.

Anhand der vorliegenden Autobiografie können die Leser mitverfolgen wie negativ sich ein fehlendes Coming out letztlich bis in alle Lebensbereiche auswirkt. Dabei erschließt sich anhand der Schilderungen nicht wirklich, wieso Sechting niemandem vertraut, denn sobald er sich in seinen Neigungen offenbart, erfährt er offensichtlich viel positive Rückmeldung und Akzeptanz. Erstaunlich auch, dass der Autor seinen zwanghaften Hang zum Perfektionismus durchaus positiv nutzen kann indem er seine Ausbildungen mit besten Zeugnissen abschließt. Ein Glücksgefühl darüber bleibt aber für ihn aus. Selbst seine kreativen Tätigkeiten als Filmschaffender drohen an den Zwängen zu scheitern, die für seinen Filmpartner unerträglich werden.

Das Buch ist mit den zahlreichen Schilderungen qualvoller Situationen für den mitfühlenden Leser streckenweise eine ziemliche Herausforderung. Es nimmt einem den Atem zu verfolgen, wie sich jemand mit offensichtlich zahlreichen Begabungen in seinen eigenen Käfig einsperrt. Immerhin gibt Sechting nicht auf und je älter er wird, desto mehr sammeln sich auch positive Erlebnisse, er findet einen Partner und zeitweise berufliche Zufriedenheit. Es bleibt zu hoffen, dass Sechtings Buch andere Betroffen ermutigt, schneller über ihre Probleme zu sprechen und vor allem passende Hilfe zu suchen. Dazu gehört nicht nur Therapie, sondern auch Freundschaften, die die Untiefen einer zwanghaften Persönlichkeit tolerieren und den liebenswerten Menschen dahinter erkennen können. Verena Liebers 

Oliver Sechting, Karen-Susan Fessel: Der Zahlendieb: Mein Leben mit Zwangsstörungen (BALANCE Erfahrungen), Taschenbuch, 191 Seiten, BALANCE Buch + Medien Verlag; Köln:  2017, ISBN-10: 3867391254 / ISBN-13: 978-3867391252, 16 Euro

„Das doppelte Stigma”: Karin Koch hat Oliver Sechting für die Psychosoziale Umschau interviewt. Download hier: https://www.psychiatrie-verlag.de/zeitschriften/psychosoziale-umschau/issue/special/manuscript/1834/show.html

Bereits Ende 2014 kam ein Dokumentarfilm mit dem Titel „Wie ich lernte die Zahlen zu lieben” in die Kinos, den Oliver Sechting gemeinsam mit Max Tauber realisierte, siehe: http://eppendorfer.de/wie-ich-lernte-die-zahlen-zu-lieben/