Wie viel war ein Leben mit Beeinträchtigung in der NS-Zeit wert? Was von damals gibt es noch heute? Auf diese und andere Fragen gibt die »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg im Rahmen ihrer neuen Dauerausstellung Antworten. Für insgesamt 1,4 Millionen Euro von Bund und Land Niedersachsen wurde ein Dokumentationszentrum errichtet, das am 31. August 2025 im Wasserturm mit altem Badehaus (Haus 34) auf dem Gelände der Psychiatrischen Klinik Lüneburg, Am Wienebütteler Weg 1, mit der Dauerausstellung »LEBENSWERT« eröffnet wurde.
Erwartet wurden hochrangige Gäste wie Maria Bering (Abteilungsleiterin Erinnerungskultur ·beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien), die niedersächsische Kultusministerin und die Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.
Über 50 Angehörige von Opfern aus dem In- und Ausland nehmen ebenfalls teil. Viele von ihnen haben mit persönlichen Interviews zur neuen Ausstellung beigetragen. Allein die über 30 Gespräche mit Angehörigen und Zeitzeug*innen ergeben mehr als sechs Stunden Filmmaterial.
Erinnerung an Opfer der NS-„Euthanasie“
Die neue Dauerausstellung füllt 110 Quadratmeter – und doch weit mehr: Durch Schubladen, Klappen und Repliken entsteht eine erweiterte Ausstellungsfläche. Über 345 NFC-Chips führen zu digitalen Vertiefungen, darunter 1.350 Internetseiten in vier Sprachen: Deutsch, Leichte Sprache, Englisch und Polnisch. Alle Inhalte sind zusätzlich als Audio verfügbar.
Ein Höhepunkt ist der Gedenkraum: Rund 2.000 Opfer der Lüneburger Krankenmorde werden dort namentlich projiziert und vorgelesen – allein dieses Gedenken dauert so lange wie eine gesamte Öffnungszeit. Wer die komplette Audiofassung mit allen Vertiefungen hören möchte, würde mehr als 50 Stunden benötigen.
Barrierefreiheit war ein Kernanliegen. Alle Texte wurden eingesprochen, Bilder mit Audiodeskriptionen versehen, Braille-Schrift integriert und digitale Tools entwickelt. Damit können auch Menschen mit Seh- oder Hörbeeinträchtigungen die Inhalte vollständig erfassen.
Erinnerung, Täterforschung und barrierefreie Aufarbeitung
Dr. Carola Rudnick, Leiterin der Gedenkstätte, betont: »Wir wollten die Familien, die Menschen mit ihren Geschichten ins Zentrum rücken – Opfer wie Täterinnen. Gleichzeitig war uns maximale Inklusion wichtig.« Dafür wurde ein Beirat mit Vertreterinnen von Menschen mit Beeinträchtigungen und Nachfahren der Opfergruppen eingerichtet – ein Novum in der Aufarbeitungsgeschichte.
Die Ausstellung gliedert sich in fünf Themenräume: DENKEN zeigt die Ideologien, die den Verbrechen zugrunde lagen. ENTSCHEIDEN behandelt die Strukturen, die das Töten ermöglichten. HANDELN dokumentiert die Verbrechen selbst – Kindermorde, Deportationen im Rahmen der »Aktion T4«, Zwangssterilisationen und das Massensterben nach 1945. In GEDENKEN werden alle Opfer namentlich erinnert, während NACHDENKEN die Fortsetzung von Gewalt und Ausgrenzung bis in die Gegenwart beleuchtet.
Besonders eindrücklich sind das »Gedenkbuch«, in dem alle bekannten Opfer recherchiert werden können, und das »Täterbuch«, das Verantwortliche benennt – inklusive der häufig ausgebliebenen Strafverfolgung nach Kriegsende. Private Fotos, Briefe und Erinnerungsstücke verleihen den Geschichten eine persönliche Dimension.
Aktuelle Forschung und offener Erinnerungsraum
Die Ausstellung ist bewusst offen gestaltet, um künftige Erkenntnisse einzubeziehen. So werden auch erst kürzlich entdeckte Scheingräber auf dem Lüneburger Friedhof Nordwest berücksichtigt. Ebenso finden die neu erforschten Krankenmorde im Städtischen Krankenhaus Lüneburg Eingang. Auch aktuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen wird thematisiert. Alle künftigen Ergänzungen sollen im digitalen Raum sichtbar gemacht werden, sodass die Ausstellung nie abgeschlossen ist.
Henry Schwier, Vorsitzender des Trägervereins, betont: »Mit dem Dokumentationszentrum schaffen wir einen Ort, an dem sich jeder umfassend über die NS-Verbrechen an Menschen mit Beeinträchtigungen informieren kann. Diese Verbrechen wirken bis heute strukturell nach.« (rd/PM)
Das Dokumentationszentrum ist ab September 2025 geöffnet:
• Donnerstags und freitags von 12 bis 18 Uhr
• Samstags und sonntags von 11 bis 17 Uhr
Der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen. Gruppen werden um Anmeldung unter 04131 60 228970 gebeten.
Gefördert wurde das Projekt durch den Bund, das Land Niedersachsen, die VGH-Stiftung, die Sparkassenstiftung Lüneburg sowie Hansestadt und Landkreis Lüneburg.
(Einen ausführlicheren Bericht lesen Sie in der nächsten EPPENDORFER-Printausgabe 6/25, die Anfang November erscheint)